Seit mehreren Jahren diskutiert die Stadt Leipzig, bekanntlich Ausgangsort der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989, wie man an dieses wahrhaft welthistorische Ereignis am besten erinnern könnte. Es ist dies deshalb bemerkenswert, weil Leipzig ein Ort ist, an dem man sich die Frage nach dem geeignetsten Ort der Erinnerung eigentlich nicht zu stellen braucht.
Zwei innerstädtische Orte, die Nikolaikirche und das Zeitgeschichtliche Forum mit seiner Dauerausstellung zur Friedlichen Revolution, sind die beiden Orte, die man als Leipziger Bürger heute wohl zuerst damit assoziieren würde. Beide haben ihre Berechtigung, der eine mehr als Ort emotionaler Erinnerung an das damalige Geschehen, der andere als Ort vertiefter analytischer Erkenntnis.
Jetzt wird aber in der Stadt noch ein dritter Ort hinzukommen, der Wilhelm-Leuschner-Platz, auf dem nach dem Beschluss des Stadtrates das neue Freiheits- und Einheitsdenkmal errichtet werden soll. Nimmt man den Berliner Wettbewerb um das dortige Denkmalpendant zum Maßstab, kann man für den Leipziger Wettbewerb nur das Schlimmste befürchten. Weshalb es eigentlich endlich auch mal an der Zeit wäre, zu fragen, wie und in welcher Form sich eine Stadt Leipzig an die Ereignisse von vor über 20 Jahren am sinnvollsten erinnern sollte.
Erinnerung an historische Ereignisse findet niemals in einem leeren, assoziationsfreien Raum statt. Insbesondere dann nicht, wenn noch viele Zeitzeugen leben. Es haben sich dann Orte, Ereignisse, Sehnsüchte und Ängste, reflektiert und wiedererinnert in vielfältigen Artikeln, Büchern und Filmen, bei den Einzelnen so verdichtet und lokalisiert, dass sie bisweilen das selbst erlebte historische Geschehen zu überschreiben vermögen. Im Rückblick auf die Friedliche Revolution vom Herbst 1989 hat sich im öffentlichen Bewusstsein ganz eindeutig die Leipziger Nikolaikirche zu solch einem mythischen Ort verdichtet.
Viele der Leipziger, die mit dem Herbst ganz andere Erinnerungen verbinden und die niemals an einer der damaligen Friedensgebete teilgenommen haben, mögen das beklagen. Aber so wie bei der Erinnerung an die Französische Revolution immer zuerst an den Sturm auf die Bastille erinnert wird (und der es wohl deshalb auch zum Französischen Nationalfeiertag brachte), erinnert man sich in Deutschland beim Rückblick auf die Friedliche Revolution immer zuerst an die Nikolaikirche, nach deren Friedensgebeten sich die Demonstranten über den Innenstadtring in Bewegung setzten. Allem Anfang wohnt ein großer Zauber inne…
Es war an sich eine bemerkenswerte Dramaturgie. Im Rückblick erscheint es dem unbeteiligten Betrachter so, als hätten die damaligen Demonstranten erst den kirchlichen Segen abgewartet, bevor sie – langsam immer stärker aufgeladen mit politischen Forderungen – über den innerstädtischen Ring zogen. Allen anders gearteten Deutungen zum Trotz war damit die Nikolaikirche – und nicht der Nikolaikirchhof, nicht der Augustusplatz, nicht der Ring und ganz sicher auch nicht der Wilhelm-Leuschner-Platz – der Ort, von dem das öffentliche Aufbegehren gegen das damalige politische System der Unfreiheit und Bevormundung und vielleicht sogar auch die Revolution als solche ihren Ausgang nahm.Bis heute scheint das aber der Öffentlichkeit nicht wirklich bewusst zu sein. Diese entkoppelt gern das Geschehen in der Nikolaikirche von den Demonstrationen danach. Ist es aber historisch gerechtfertigt, den friedlichen Verlauf der Revolution vom Herbst 1989, die in der ehemaligen DDR bekanntlich nicht einem Menschen das Leben gekostet hat, von ihrem Ausgangsort, den Friedensgebeten in der Nikolaikirche, zu trennen?
Eine mehrheitlich atheistische Gesellschaft tut sich schwer damit, hier eine Verbindung zu erkennen. Sie ist aber ganz ohne Zweifel vorhanden, weil sich damals nicht nur die Demonstrationen sondern vor allem auch die Friedensgebete wie ein Flächenbrand im ganzen Land ausbreiteten. Sie schufen eine Stimmung der innerlichen Konzentration und des Respektes auch vor dem politischen Gegner, die militante Demonstranten davon abhielt, in einer zerfallenden Staatsordnung zu Anarchie und Selbstjustiz zu schreiten.
Durch besondere historische Umstände erfolgte die Abwicklung der DDR in – vor allem im Blick auf die Geschichte, in der solche Umbrüche stets auch mit den schlimmsten Gewaltexzessen verbunden waren (siehe dazu nur die arabische Revolution von diesem Jahr) – in sehr geordneten und kontrollierten Bahnen. Montags ging man in Leipzig erst arbeiten, dann am Abend demonstrieren, um sich dann im Rest der Woche weiter seinen beruflichen Pflichten zu widmen, wenn auch in den damaligen Wochen in eher gemilderter Form.Man kann dies eine der seltsamsten Revolutionen der Weltgeschichte nennen. Ganz sicher war es aber eine sehr bürgerliche, deren Bestreben vor allem auf eine funktionierende Wirtschaft, freie politische Kommunikation, Reisefreiheit und das Ende eines damals überall mit Händen zu greifenden ökologischen Raubbaus gerichtet war. Bemerkenswerterweise wurde ihr durchschlagender Erfolg mit ausgesprochen friedlichen Mitteln erzielt, da sie ganze Länder nicht nur politisch, sondern auch sozial umstürzte. Dass dies keine Selbstverständlichkeit war, beweist das abschreckende Beispiel Jugoslawiens, dessen staatlicher Zerfall von einem Bürgerkrieg begleitet wurde.
Welcher Ort in Leipzig wäre deshalb wirklich am geeignetsten, um an diese Friedliche Revolution vom Herbst 1989 zu erinnern?
Ich glaube, dass es darauf nur eine Antwort geben kann: die Nikolaikirche!
In welcher Form?
Dazu hat der Bund Bildender Künstler Leipzig vor über einem Jahr dem Oberbürgermeister der Stadt bereits einen interessanten Vorschlag unterbreitet: Durch die Verleihung eines Demokratiepreises! Man wollte damals einen Teil der vom Bund für das Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal zur Verfügung gestellten Mittel benutzen, um daraus einen mit 100.000 Euro dotierten Demokratiepreis zu stiften. Verliehen jährlich am ersten Sonntag nach dem 9. Oktober. Da diese durch den Beschluss des Bundestages vom November 2007 nicht möglich ist (die Mittel sind nur für ein Denkmal bestimmt), müsste eine Ersatzfinanzierung dafür gefunden werden.
Das Sinnvollste wäre sicherlich, wenn sich die Stadt Leipzig selbst entschließen könnte, diesen Preis zu stiften. Aus dem Kulturetat finanziert (die Preissumme würde nicht mehr als 0,1% des jährlichen Kulturetats betragen), könnte die Stadt auf geniale Art und Weise die Erinnerung an Geist und Ethos der Friedlichen Revolution dauerhaft konservieren und – durch die Auszeichnung – der ganzen Welt jedes Jahr neu davon erzählen.
Allerdings ist zu bezweifeln, dass es in Stadtrat und Verwaltung das nötige Verständnis für solch eine imposante Art der Erinnerung gibt, die im Übrigen die jetzige Rede zur Demokratie, die jedes Jahr am 9. Oktober in der Nikolaikirche gehalten wird, kongenial weiterentwickeln würde. Weshalb man bei der Finanzierung wohl auf eine zweite Möglichkeit zurückgreifen sollte: die Finanzierung des Preises durch die Bürger der Stadt bzw. die Bürger der Bundesrepublik Deutschland selber, die sich mit dieser Preisstiftung ein Denkmal ganz eigener Art setzen könnten.
Ich bin mir sicher, dass die Preissumme schneller zusammenkäme, als das mancher im Rathaus erwartet. Vielleicht ruft aber der Oberbürgermeister selber die Bürger der Stadt zu dieser Spendenaktion auf – jeder, der mehr als 100 Euro spendet, darf dann bei der jährlichen Preisverleihung in der Nikolaikirche garantiert mit Platz teilnehmen. Ich bin mir sicher, dass die Stadt Leipzig danach sehr schnell Wartelisten wie bei den Bayreuther Festspielen anlegen müsste. Und allein durch diese Form der Finanzierung würde ein solcher Preis in Deutschland einzigartig sein.
Er wäre aber vielleicht wirklich die geeignetste Form der Erinnerung an den Herbst 1989, dessen Demonstrationen die Bürger damals ganz spontan veranstalteten. Dieser Deutsche Demokratiepreis wäre so einzigartig, wie die Stadt Leipzig mit ihrer Geschichte selber; einzigartig wie die Nikolaikirche, die alte Bürgerkirche der Stadt, die man auch mit Blick auf ihre frühklassizistische Architektur und wichtigen Ort der Musikgeschichte als eine Art deutscher Nationalkirche bezeichnen kann und darf, und so einzigartig wie ihre Bürger auch, die im Herbst 1989 eine der glücklichsten Revolutionen der Weltgeschichte ins Werk setzen. Mit Augenmaß, Selbstbeherrschung und Blick für das Wesentliche.
Und die dafür durch eine nachfolgende flächendeckende Sanierung sowie bauliche und ökologische Neugestaltung ihrer Stadt hin zu einer der schönsten Städte des Kontinents belohnt wurden. Leipzig ist heute ein Ort, an dem ihre Bürger außerordentlich gern leben und mit dem sie sich in hohem Maße identifizieren, trotz schwieriger finanzieller Verhältnisse und immer noch hoher Arbeitslosigkeit.
Herr Oberbürgermeister – bitte übernehmen Sie!
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