Der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf - von 1990 bis 2002 Ministerpräsident Sachsens - plädiert in seinem Buch "Wir haben die Wahl - Freiheit oder Vater Staat" für eine Wandlung in Deutschland: weg vom allgegenwärtig sorgenden Wohlfahrtsstaat hin zu einer bürgerlichen, solidarischen Gemeinschaft.
Frank Schlößer, Redakteur des L-IZ-Partnerportals www.das-ist-rostock.de, sprach mit ihm bei einem Lesetermin in Wismar.
Kurt Biedenkopf, in Ihrem Buch plädieren Sie dafür, dass die Kommunen mehr Verantwortung übernehmen. Warum soll der Staat von seiner Verantwortung entlastet werden?
Der Staat soll nicht entlastet werden. Er soll sich selbst begrenzen. Derzeit scheitert er an seinem Anspruch, alles reglementieren zu wollen. Denn einerseits führen immer mehr Reglementierungen zu immer neuen Ungerechtigkeiten im Land. Andererseits hindern sie die Bürger und ihre Zivilgesellschaft daran, eigenverantwortlich zu handeln. Diese Lähmung muss beendet werden, denn wir brauchen die Initiative der Bürger für die Bewältigung der Probleme von heute und morgen. Alles, was sie dafür an Zusammenarbeit und professioneller Hilfe brauchen, können sie auch von ihrer Kommune bekommen.
Aber wie soll das gehen? Nicht nur Rostock, auch andere Kommunen sind zu hoch verschuldet, um selbst Unterstützung geben zu können.
Dazu müssen die Ursachen für die Verschuldung beseitigt und eigenständige Einnahmen der Kommunen gestärkt werden, zum Beispiel im Rahmen der Einkommenssteuer. Aber das wäre der zweite Schritt. Der erste Schritt ist ein neues Engagement der Bürger, die ihr Lebensumfeld selbst mitgestalten und Verantwortung übernehmen wollen. Es läuft auf eine Art Reformation oder Revolte der Bürgerschaft gegen wachsende Bevormundung durch die bestehenden Verhältnisse in den Kommunen hinaus, die ihnen nur – zum Beispiel per Bürgerentscheid – Gelegenheit geben, zu bereits beschlossenen Vorhaben ja oder nein zu sagen.
Sie haben doch die Chance, ihre Vertreter zu wählen…
Das reicht offensichtlich nicht mehr. Die Bürger müssen die gestaltende Rolle für sich beanspruchen, sie müssen bestimmen, welche Fragen wirklich wichtig sind und wie man sie lösen kann – in Zusammenarbeit mit der kommunalen Selbstverwaltung. Die Bürger sind nicht die Mündel der Kommune, sondern ihre Partner. Es ist ja nicht nur in Rostock so, dass die Stadtparlamente, Bürgermeister und Verwaltungen sich gegenseitig blockieren. Die politischen Parteien, die – auch wenn sie in der Opposition sind – die Sache der Stadt nicht mehr vertreten, verdienen die Macht nicht mehr, die ihnen die Kommunalverfassung gibt. Dann müssen die Bürger aufstehen und sagen: “Da machen wir nicht mit!”
Wurden die Kommunen mit System in diese Schuldenfallen getrieben?
Wir haben auf allen Ebenen über unsere Verhältnisse gelebt, auch auf der kommunalen. Je früher wir lernen, uns zu begrenzen, umso leichter fällt es uns. Wir müssen lernen, Prioritäten zu setzen: Was ist wichtig, was ist weniger wichtig? Was müssen wir sofort in Angriff nehmen, was kann warten? Aber wie werden diese Entscheidungen derzeit getroffen? Nicht nach dem, was getan werden müsste! Sondern nach dem, was die Fördertöpfe hergeben, also nach dem, was auf Bundes- oder europäischer Ebene politisch durchgesetzt wurde. Das soll dann für alle Regionen und Kommunen in Deutschland gleichermaßen gelten? So funktioniert das nicht!
Die Städte selbst sind doch in jeder Hinsicht abhängig von dem, was Land, Bund und Europäische Union von oben durchreichen – seien es nun Gesetze oder Geld.
Das muss sich umkehren. Die anstehenden Probleme sind enorm groß: Umweltbelastungen, Schuldenberge, Energiewende – alles das können wir nicht unseren Kindern und Enkeln überlassen. Das meine ich ganz konkret: In den Städten und Dörfern, in denen wir, unsere Kinder und unsere Enkel leben, das heißt den kleinen Lebenskreisen, werden sich die Folgen der Umbrüche und der alternden Bevölkerung auswirken – und dort müssen sie auch gelöst werden. In Eigenverantwortung. Kein Staat kann sie zentralistisch bewältigen. Hier tragen die Bürger selbst die Verantwortung. Und die Unterstützung dafür muss von ihrer Kommune kommen.
Wo bleibt denn da der europäische Gedanke?
Was wir hier besprechen, hat mit Europa zunächst nichts zu tun. Die soziale Ordnung ist Sache der Mitgliedsländer der EU und Ausdruck ihrer jeweiligen Kultur. Schon deshalb werden wir keine europäische Sozialordnung bekommen. Es besteht dafür auch kein Bedürfnis. Eine europäisch organisierte Alterssicherung ist für mich ein Horror. Dafür sind die Traditionen und Kulturen viel zu unterschiedlich. Wir müssen unser Haus in Ordnung bringen, damit wir eine starke Säule in Europa bleiben. Das soll natürlich die Regionen und Kommunen in Europa nicht daran hindern, einander kennenzulernen und miteinander zu arbeiten. Aber das wird keine politische Ebene sein, auf die wir so wie bisher die Verantwortung für unsere Probleme abwälzen können.
Kurt Biedenkopf, danke für das Gespräch.
Kurt Biedenkopf “Wir haben die Wahl”. Erschienen 2011 im Propyläen-Verlag. 250 Seiten, 19,99 Euro.
Zum Buch: Die Zukunft Deutschlands steht auf dem Spiel. Wir hinterlassen den nachfolgenden Generationen einen riesigen Schuldenberg und marode Sozialsysteme, die nicht zukunftsfähig sind. In einem sehr persönlichen Buch zeigt Kurt Biedenkopf die Weichenstellungen auf, die dringend notwendig sind, um Wohlstand und Freiheit zu bewahren.
Es gibt eine klare Wahl: ein Mehr an staatlicher Bevormundung oder ein Mehr an bürgerlicher Eigenverantwortung. Je länger diese Entscheidung vertagt wird, desto kostspieliger wird sie. Denn der derzeitige Kurs immer expansiverer Ansprüche an den Staat überfordert diesen und führt geradewegs in die Erosion unserer freiheitlichen Grundordnung. Demgegenüber verficht Biedenkopf das Prinzip der Subsidiarität: Staatliche Aufgaben sind soweit wie möglich durch die jeweils kleinere Einheit wahrzunehmen, Entscheidungen sind dort zu treffen, wo sie unmittelbare Auswirkungen haben.
Nur so können Zentralismus und Bürokratismus verhindert, mehr Bürgernähe ermöglicht, Engagement und Motivation der Bürger gestärkt werden. Nur so können Deutschland und Europa die Stürme des 21. Jahrhunderts bestehen. Diese Weichenstellung – Abkehr vom Irrweg des vormundschaftlichen Staates, Hinwendung zur sich frei entfaltenden Zivilgesellschaft – ist Aufgabe der jetzt an die Schalthebel der Macht drängenden Generation. An ihre Verantwortung appelliert Biedenkopf mit aller ihm zu Gebote stehenden Leidenschaft. Was bisher sträflich versäumt wurde, muss jetzt mit aller Kraft auf den Weg gebracht werden.
Kurt Biedenkopf, geboren 1930 in Ludwigshafen. In den 1960er-Jahren Rektor der Ruhr-Universität Bochum. Von 1973 bis 1977 CDU-Generalsekretär, 1977 Mitbegründer des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn. 1990 bis 2002 Ministerpräsident des Freistaats Sachsen.
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