Günter Wallraff kennt sich seit vielen Jahren bestens auf dem Niedriglohnsektor aus. Seit über vier Jahrzehnten beobachtet er den Arbeitsmarkt wie kein Zweiter. Immer wieder schleust sich der Journalist undercover in Großbetriebe ein, um auf die Missstände des deutschen Arbeitssystems aufmerksam zu machen. Mit L-IZ.de sprach er über die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte, die Rolle des Staats und die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai.
Wo sehen Sie zurzeit die größten Misstände innerhalb unserer Gesellschaft?
Wo soll ich da anfangen? Sicher bei den Niedriglohnarbeitsplätzen am ehesten, wo Stammarbeiter abgebaut werden, Leiharbeiter die gleiche Arbeit machen müssen und dann oft noch Einsparungen stattfinden. Wo ein einzelner die Arbeit erledigen muss, die früher zwei Kollegen machten. Innerhalb der Produktionsbereiche, wo gewerkschaftliches Engagement zu Wünschen übrig lässt. Dort ist die Willkür noch viel größer. Aber wo fängt man an und wo hört man auf? Es ist in der gesamten Gesellschaft inzwischen zu beobachten, dass nicht einmal Mindestlöhne – das Mindeste, was ein menschenwürdiges Auskommen gestatten würde – durchgesetzt werden.
Sie sprechen im Zusammenhang mit dem Niedriglohnsektor von moderner Sklavenarbeit.
Im Gegenteil: Ich würde das noch als schlimmer ansehen. In Griechenland war der Sklavenhalter noch interessiert, seinen Sklaven möglichts lange bei Gesundheit zu halten und ihn möglichst gut zu behandeln, damit er ihm lange erhalten bleibt. Heute hat man den Eindruck, das sind manchmal Wegwerf-Arbeiter, die solange ausgepresst werden, solange sie für die Arbeit funktionieren. Dann werden sie wieder entlassen und weggeschmissen, denn man hat genug neue.
Sie haben in vielen Betrieben verdeckt gearbeitet. Welches Erlebnis hat bei Ihnen in den letzten Jahren den stärksten Eindruck hinterlassen?
Ich war in der Callcenter-Szene und habe erlebt, wie da aus Opfern Täter wurden. Menschen sind zur Arbeit in Callcentern verpflichtet worden, wo sie betrügerische Verkaufsabschlüsse zu Stande bringen mussten. Menschen wurden pro Stück bezahlt. Wenn sie wieder jemanden überrumpelten, bekamen sie wieder eine kleine Prämie. Verkauft wurden Produkte, die wertlos, überteuert oder sogar schädlich waren. Alles wird da vertickt: Achtzig Prozent der Verkäufe waren betrügerisch und kriminell. Das sage nicht nur ich. Das sagen auch Verbraucherverbände. Da ist der Staat in der Rolle eines Zuhälters, der diese Callcenter auch noch subventioniert, damit wieder neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Wie könnte eine Lösung dieses Problems aussehen?
Der Wert der Arbeit muss wieder im Vordergrund stehen. Arbeitszeitverkürzungen und gleichzeitig die Einführung von Standards, die dafür sorgen, dass bestimmte Arbeiten nicht mehr dauerhaft ausgeübt werden können. Viele Menschen, die unter solchen Bedingungen arbeiten, erreichen überhaupt nicht mehr ihr Rentenalter. Von einer Rente ab 67 pauschal zu sprechen ist ein Unding. In Frankreich gehen die Menschen auf die Straße, wenn das Rentenalter von 60 auf 62 erhöht werden soll.
Es gibt nicht nur die Menschen, die unwürdigen Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, sondern auch die, die sie schaffen. Ist der deutsche Arbeitsmarkt eine Mehrklassengesellschaft?
Eine Klassengesellschaft wird zurzeit verstärkt von interessierter Seite ausgebaut. Aber wir leben längst schon in einer Art Kastengesellschaft. Da ist die Kaste der “Unberührbaren”: Langzeitarbeitslose. Menschen, die in der zweiten oder dritten Generation in Armut hineingeboren werden. Das alles nimmt zu. Genauso wie sogenannte “bildungsferne Schichten”: Die Medien verdummen heute schon soweit, dass die Mädchen in bestimmten Klassen mehrheitlich als Berufswunsch Sängerin, Model oder allenfalls noch Friseuse angeben. Da ist die Verblödung voll durchgeschlagen. Durch Desinformation und Uninformiertheit ist ein System am Entstehen, wie Huxley es in “Brave New World” beschrieben hat. Das heißt, eine Alphaplus-Schicht, die die anderen Menschen dirigiert, und die Millionenlinge, die sich durch Brot und Spiele von ihren eigenen Interessen abhalten lassen.
Ab dem 1. Mai gilt innerhalb der EU wieder ein Stück mehr Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Was bedeutet das für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor?
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“Freizügigkeit” ist ein toller Begriff. Das heißt soviel wie, noch mehr freies Ausbeutertum für diejenigen, die jetzt noch kostengünstiger und profitintensiver ihre Interessen durchsetzen können. Man kann den Menschen nicht vorwerfen, dass sie hierher kommen, um für einen Sklavenlohn von 2-3 Euro überhaupt eine Arbeit zu bekommen und sich ausbeuten lassen. Damit sackt das Lohngefälle noch weiter nach unten ab. Das allermindeste, dass das durch Mindestlöhne abgefangen wird. Jede demokratische Regierung müsste das durchsetzen.
Im Tageszeitungssektor wird in den letzten Jahren immer mehr zusammengespart. Die Auflagenzahlen sinken, Stellen werden abgebaut, freie Mitarbeiter erhalten zu niedrige Löhne. Viele Redaktionen unterliegen drastischen Sparzwängen. Welche Zukunft sehen Sie angesichts solch beunruhigender Rahmenbedinungen für den investigativen Recherche-Journalismus?
Ich rate jedem, der sich für den Journalistenberuf entscheidet, noch einen zweiten Beruf zu erlernen, um nicht abhängig zu werden. In jedem Fall sollte man sich spezialisieren, also sich auf einem Gebiet so sachkundig machen, dass man darin zum Experten wird. Ich würde nicht über alles und jedes schreiben, sondern mich Minderheiten zuwenden. Ein Journalist sollte nicht nur veröffentlichen, sondern sich auch als Menschenrechtsaktivist denen zuwenden, die keine Lobby haben, die viel zu sagen hätten und wenig zu sagen haben.
Heißt das, guter Journalismus verändert die Gesellschaft?
Er kann die Gesellschaft verändern, wenn er das nachhaltig und phantasievoll macht und dabei sich selbst nicht schont.
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