Als am Freitag, 11. März, in Japan die Erde bebte, bereiteten sich Leipzigs Atomkraftgegner gerade auf eine Reise nach Stuttgart vor. Sie wollten an der Menschenkette teilnehmen, die sich vom Kernkraftwerk Neckarwestheim bis in die Landeshauptstadt von Baden-Württemberg erstreckte. 60.000 Menschen waren am 12. März dabei, als auch die Nachrichten aus dem Kraftwerk Fukushima eintrafen.

“Angesichts der Bilder fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden. Wir als Bündnis sind tief betroffen und unsere ganze Anteilnahme gilt den Menschen in Japan, die vom Erdbeben und der Havarie in Fukushima unmittelbar betroffen sind”, sagt Jürgen Kasek, einer der Mitinitiatoren des Bündnisses, das schon mehrfach gegen die Versuche der sächsischen Staatsregierung protestierte, die Rossendorfer Reaktor-Rückstände einfach im russischen Majak “endzulagern”.

“In Japan war nicht menschliches Versagen der Auslöser, sondern eine Naturkatastrophe, ein Erdbeben von enormer, aber nicht unvorhersehbarer Gewalt”, stellt Kasek fest. “Dort wurde ein Atomreaktor durch ein kalkulierbares Beben so stark gestört, dass er nach der normal verlaufenen Sicherheitsabschaltung aufgrund defekter Betriebsaggregate und fehlenden Kühlmittels anhaltend außer Kontrolle geriet. Inzwischen ist auch bekannt, dass der Betreiber an Sicherheitsmaßnahmen gespart hat und es schon häufiger zu Zwischenfällen im AKW Fukushima kam.”

Seit diesem Samstag ist auch in Deutschland nichts mehr, wie es nach dem Atomdeal zur Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke gewesen zu sein schien. Selbst das heftige Zurückrudern am Sonntag offenbarte nur eines: Auch die Bundesregierung hat die Sicherheitsprobleme bei der so gern gefeierten “Brückentechnologie” nur kleingeredet. Das von Bundeskanzlerin Angela Merkel verkündete Moratorium spricht eine deutliche Sprache: Gerade den alten Meilern in Deutschland misstraut auch die Regierung.”In der Havarie von Fukushima verwirklichen sich alle der Nutzung der Atomkraft inhärenten Gefahren. Es wird wieder einmal klar, dass es sich bei der Stromerzeugung aus Atomenergie um eine Technologie handelt, die der Mensch nicht in aller Gänze beherrschen kann”, so Kasek. “Die Menschheit kann dabei nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, denn Fukushima stellt für alle atomstromproduzierenden Staaten weltweit eine Zäsur dar. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir ausdrücklich die Entscheidung der Bundesregierung, die Laufzeitverlängerung zunächst auszusetzen. Aber wir sagen auch deutlich, dabei darf es nicht bleiben.”

Über 60.000 Menschen haben am Samstag in Stuttgart deutlich gemacht, dass sie mit dem Risiko, das von der Atomenergie ausgeht, nicht mehr leben wollen. Am Montagabend, 14. März, fanden sich in etwa 400 deutschen Städten über 110.000 Menschen zusammen, um der Opfer des Tsunami zu gedenken und die Abschaltung aller Atomreaktoren weltweit zu fordern. Auch in Leipzig strömten Hunderte auf den Augustusplatz.

“Die Bundesregierung kann daran nicht achtlos vorüber gehen. Jetzt erst recht wird klar, dass es keine Sicherheit gibt, dass sie stets eine Illusion ist”, so Kasek. “Wir fordern daher mit Nachdruck, dass die Bundesregierung ihre Entscheidung revidiert und die Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke zurücknimmt, denn schon jetzt wird genügend Strom produziert, um die sieben ältesten Meiler vom Netz zu nehmen, ohne dass es zu einer Stromknappheit kommen würde.”Am Montag veröffentlichte auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) ihren AKW-Gefährdungsatlas in einer völlig überarbeiteten Neuauflage. Er stellt übersichtlich und informativ die unmittelbaren Gefährdungszonen für den Fall einer Kernschmelze in einem deutschen oder grenznahen ausländischen AKW dar, wie sie aktuell in Japan droht. Einzelne AKWs gefährden so laut Umweltstiftung bis zu 18 Millionen Menschen in ihrem Einzugsbereich.

Dazu Projektleiter Hans Günter Schumacher: “Besonders gefährdet, teils durch bis zu sechs AKWs in unmittelbarer Nähe, sind die Regionen um Bremen, Südbaden, Nordwürttemberg und die westlichsten Regionen der Bundesländer Saarland, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.”

Die DUH hat auch ausgerechnet, wieviele Menschen im Umkreis von 150 km der zwölf AKW-Standorte in Deutschland betroffen wären, wenn es zu Reaktorunfällen käme. Erfasst wurden bei der Rechnung 247 Landkreise von 301 einschließlich zwei Regionen (Saarbrücken, Hannover). Das sind – so die DUH – 82,06 % der Landkreise in Deutschland sowie 103 kreisfreie Städte. Einige davon liegen im 150-Kilometer-Radius von bis zu sechs Atomkraftwerken.

Und dass auch deutsche Atomkraftwerke nicht gegen Gefährdungen gewappnet sind, zeigen die Vorgänge um das Kraftwerk Krümmel bei Hamburg. Doch auch vor Naturkatastrophen ist Deutschland nicht gefeit, auch wenn die Gefährdungslage nicht so hoch ist wie in Japan. Dazu veröffentlichte die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) am Montag eine neue Karte “Epizentren der Schadenbeben”, die alle in Deutschland und den angrenzenden Gebieten seit dem Jahr 800 aufgetretenen relevanten Beben darstellt.

Deutschland liegt im Gegensatz zu Japan nicht an einer aktiven Plattengrenze. Deshalb sprechen Seismologen für Deutschland in Hinblick auf Anzahl und Stärke der Erdbeben von geringer bis moderater Seismizität.”Die Karte zeigt, dass in Deutschland stärkere Beben im Wesentlichen in vier Regionen auftreten: die Schwäbische Alb, der Rheingraben, die Niederrheinische Bucht und das Vogtland”, erklärt Dr. Christian Bönnemann, Leiter des BGR-Fachbereichs “Seismologisches Zentralobservatorium, Kernwaffenteststopp”. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts werden Erdbeben instrumentell gemessen. Die stärksten in diesem Zeitraum gemessenen Beben hatten eine Magnitude von etwa sechs. Das stärkste historisch für Mitteleuropa belegte Beben wird von Seismologen mit einer Magnitude von etwa sieben bewertet – das Basel-Erdbeben von 1356.

Während die Magnitude ein Maß für die abgestrahlte seismische Energie eines Bebens ist, kommt für die Ermittlung der Auswirkungen von Erdbeben auf Gebäude und Industrieanlagen die 12-stufige Intensitätsskala (I bis XII) zur Anwendung. Diese beschreibt die Auswirkungen und Schäden von Erdbeben an einem bestimmten Standort. Beben gleicher Magnitude können sich je nach Herdtiefe, Entfernung und Bodenbeschaffenheit mit unterschiedlicher Intensität auswirken.

Die in Deutschland gültigen Vorschriften zur Erdbebensicherheit von Kernkraftwerken sind sehr streng, betont die BGR. Sie sind in den Regeln 2201.1 bis 6 (Auslegung von Kernkraftwerken gegen seismische Einwirkungen) des Kerntechnischen Ausschusses (KTA) festgelegt.

“Die Kraftwerke müssen so ausgelegt sein, dass sie Belastungen standhalten, die über die für den Standort zu erwartenden Bebenauswirkungen hinausgehen”, sagt Dr. Thomas Spies, Leiter des BGR-Arbeitsbereichs “Ingenieurseismologische Gefährdungsanalysen”.

Kernkraftwerke in Gebieten mit geringer Seismizität wie in Norddeutschland müssen nach diesen Vorschriften Intensitäten zwischen VI und VII widerstehen. Kernkraftwerke in den oben genannten Regionen mit moderater Seismizität wurden für Intensitäten zwischen VII und VIII ausgelegt.

Vier deutsche Kernkraftwerke liegen in solchen erdbebengefährdeten Zonen: Neckarwestheim (das jetzt abgeschaltet werden soll), Philippsburg, Biblis und Gundremmingen östlich von Ulm in Bayern.

Das Erdbeben vom 11. März haben auch die japanischen Kernkraftwerke überstanden. Doch zum Problem danach wurde der durch das Erdbeben ausgelöste Komplettausfall der Stromversorgung der Anlagen, so dass die Kühlsysteme ausfielen. Was auch für die deutschen Kernkraftwerke bedeutet, dass es eine vollkommene Resistenz gegen Erdbeben nicht gibt.

Das Bündnis Campact hat jetzt einen Appell gestartet, den alle unterzeichnen können, die für die sofortige Abschaltung der deutschen Kernreaktoren sind. Den Appell findet man hier: www.campact.de

Der AKW-Gefährdungsatlas der Deutschen Umweltstiftung (2. Auflage) kann ab sofort zum Preis von 10 Euro im Buchhandel (ISBN 978-3-942466-00-4) oder direkt bei der Deutschen Umweltstiftung bestellt werden: www.atlas.deutscheumweltstiftung.de

Informationen der BGR: www.bgr.bund.de/schadenbeben-deutschland

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