Heike Schulze-Rothnauer ist aufgeschlossen, kommunikativ und freundlich, als wir uns in einem Café treffen. Sie lacht viel. Doch es gab Zeiten, da hatte die 60-jährige Sozialarbeiterin wenig Grund dazu: Ihr neugeborener Sohn war schwer krank; sein Leben stand auf der Kippe – und als es ihm besser ging, erwischte es sie selbst. Doch Schulze-Rothnauer schaffte den Weg zurück ins Leben. Heute hilft sie anderen. Die Geschichte von Resilienz und einer Frau, die sich nicht aufgab.
Schockmoment nach der Geburt
Den Schock Ende des Jahres 2004 vergisst Heike Schulze-Rothnauer nicht. Damals wird in der Leipziger Uniklinik ihr zweiter Sohn entbunden, alles in Ordnung, so scheint es. Doch als der Säugling nicht wie üblich zur Mutter gebracht wird und die Krankenschwestern verlegen herumdrucksen, spürt sie sofort, dass etwas nicht stimmen kann.
Ihre Befürchtung bestätigt sich: Der Kleine liegt in der damaligen Kinderklinik Oststraße, die Diagnose lautet Ösophagusatresie – eine Fehlbildung der Speiseröhre, vorab nicht erkannt. Umgehend folgt der Auftakt einer Reihe von Operationen. Der Junge bekommt einen künstlichen Zugang, um mit Milch versorgt zu werden.
Monatelang bleibt er in der Klinik, die Ärztinnen und Ärzte geben ihr Bestes – und doch schwebt er in Lebensgefahr. Schulze-Rothnauer ist an seiner Seite, schleppt sich selbst mit steifem Rücken täglich ins Krankenhaus: „Ich wollte einfach bei meinem Kind sein.“ Ihr berufstätiger Ehemann und der große Sohn, damals knapp 20, unterstützen sie nach Kräften.
Nach einem halben Jahr Intensivstation wird das Baby per Helikopter ausgeflogen und von einem Spezialisten in Stuttgart operiert. Danach braucht es weiter ständige Pflege und Therapie, der Schluckreflex muss angeregt werden. Eine extrem fordernde Zeit für die Pflegekräfte, die Eltern und den großen Bruder. Doch ganz langsam stabilisiert sich die Lage, der Junge entwickelt sich zu einem gesunden Kind.
Das Kämpfen hat sie früh gelernt
Dafür ist es seine Mutter, die nun Probleme bekommt: Der permanente Ausnahmezustand, die Angst um den Jungen, all das ist an Schulze-Rothnauer nicht spurlos vorbeigegangen. Symptome einer Depression schlagen bei ihr voll durch. Dazu erleidet sie ab 2007 insgesamt zwölf Hörstürze, muss zur Reha.
Die Patientin steht kurz vor der verminderten Erwerbsfähigkeit, aber das lehnt sie ab: Sie ist überzeugt, dass sie ihre Erkrankungen überwinden kann, auch wenn es Zeit braucht. Schulze-Rothnauer will sich peu à peu zurückkämpfen.
Zu kämpfen, diszipliniert bei sich zu bleiben, hat Schulze-Rothnauer schon früh gelernt – und vielleicht hilft ihr das auch, mit der harten Situation umzugehen. 1963 wird sie als drittes von fünf Mädchen eines Lehrerpaares geboren, wächst in einem Dorf bei Leipzig auf, mit entsprechend viel Natur, Tieren und Bewegung an der frischen Luft.
Flucht in die eigene Welt
Doch die Fassade des idyllischen Landlebens trügt. Als sogenanntes „Sandwichkind“ hat Schulze-Rothnauer einen schweren Stand. Während ihr Vater ein introvertierter Typ ist, mit dem sie keinen Stress hat, gibt es Konfliktpotenzial mit der Mutter. Schulze-Rothnauer beschreibt sie als kleingewachsene Frau, lebhaft, dominant und äußerst streng.
Vor dem psychischen Druck flüchtet die Tochter schon als Kind und Teenager in ihre eigene Welt, bringt sich selbst die Kniffe des Eiskunstlaufs auf dem Dorfteich bei, singt, macht Sport. Vom Elternhaus hat sie sich längst abgenabelt, als sie Anfang der achtziger Jahre an der Erweiterten Oberschule (EOS) in Leipzig ihr Abitur ablegt.
Arbeit mit Heimkindern in der DDR
Da sie unbedingt mit Menschen arbeiten will, fängt Schulze-Rothnauer am 1. September 1982 im Kinderheim Waldstraßenviertel an. Sie ist gerade volljährig, die ältesten der Kinder und Jugendlichen vielleicht ein halbes Jahr jünger. Schulze-Rothnauer betreut eine Gruppe von 18 Erst- bis Drittklässlern, animiert sie zur Bewegung, unternimmt Ausflüge mit ihnen und entwirft Gesangsprogramme.
An Wochenenden läuft sie mit den Kids manchmal von der Fregestraße bis in den Wildpark und zurück, danach sind alle ausgepowert, aber glücklich. Die junge Erzieherin will für alle anerkennend da sein, jedes Kind mit seinen Stärken fördern. Autoritätsdenken kann sie nicht leiden: „Ich wollte einfach nicht schreien, sondern es besser machen.“
Auch wenn sie gut zwei Jahre braucht, sich volle Anerkennung zu erarbeiten, und Konflikte nicht ausbleiben, denkt sie gern zurück: „Es war schon eine richtig schöne Zeit“, meint Schulze-Rothnauer heute.
1985 kommt der erste Sohn auf die Welt, ihr distanziertes Verhältnis zum Elternhaus bessert sich. Schulze-Rothnauer arbeitet weiter im Heim, nimmt ein Fernstudium auf, das sie 1989 kurz vor der Revolution und dem Ende der DDR abschließt.
Als sich die Zeiten änderten
Von den Entlassungswellen der Nachwendezeit bleibt das Kinderheim vorerst verschont, Schulze-Rothnauer kümmert sich dezentral um eine Gruppe in Anger-Crottendorf. 2004 schließt sie ein berufsbegleitendes Heilpädagogik-Studium ab. Als bei einer Wanderung in der Sächsischen Schweiz ihre Achillessehne reißt und sie nach dem Ausfall zur Arbeit zurückkehrt, wird ihr bewusst, dass sie eigentlich nicht mehr in die Heimerziehung will.
Die Zeiten haben sich gewandelt: Neben dem anstrengenden Schichtdienst sind es vor allem die zunehmenden Alkohol- und Drogenprobleme Jugendlicher, bei denen sie sich weitgehend machtlos fühlt. Gegen Kriminalität und Prostitution kommen auch Sportangebote nicht mehr an.
Ein Schlüsselmoment ist es, als sie einen 17-Jährigen aus der Klinik abholt. Dem war Alkohol eingeflößt worden und man fand ihn bewusstlos auf einer Parkbank. Mit knapper Not wurde das Leben des Teenagers gerettet. „Nein, das willst du nicht mehr“, sagt sich die engagierte Erzieherin. Damals ist sie bereits mit dem zweiten Sohn hochschwanger.
Beziehung zur Mutter stabilisiert
Der ist heute, mehr als 19 Jahre später, ein gesunder junger Mann, ein sportlicher Forschergeist, dank der Uniklinik, der ärztlichen Kunst und des familiären Engagements. Er wohnt noch bei seinen Eltern, will nach dem Fachabi eine Ausbildung machen, vielleicht studieren.
Und Schulze-Rothnauer selbst schafft es nach längerer Zeit durch professionelle Unterstützung, mit ihren eigenen Problemen umzugehen. Als von Natur aus eher ungeduldiger Mensch muss sie freilich erst begreifen, wie wichtig der Zeitfaktor ist. Auch das schwierige Verhältnis zu ihrer inzwischen hochbetagten Mutter, das sie therapeutisch aufgearbeitet hat, ist solide, Schulze-Rothnauer unterstützt sie und hält den Kontakt.
Allerdings: Ein paar Dinge nehme sie ihr auch rückblickend noch übel, bekennt Schulze-Rothnauer. Öffentlich darüber sprechen möchte sie nicht. Für die meisten Probleme von früher könne sie aber mit dem heutigen Abstand ein gewisses Verständnis aufbringen: Die Zeiten waren eben einfach andere, und vielleicht war die Mutter mit ihrer anspruchsvollen Arbeit, den vielen Ämtern und der Familie auch ein wenig überlastet, urteilt sie sachlich. „Sie hat ja auch gute Sachen geleistet.“
Arbeit in der Wohnungsnotfallhilfe
Gutes zu leisten – ein Vorsatz, den auch Schulze-Rothnauer für sich verinnerlicht hat. Nach dem Wiedereintritt ins Arbeitsleben, einer kurzen Zeit in Kindergärten und einer siebenjährigen Station beim Allgemeinen Sozialdienst (ASD) mit Studium der Sozialarbeit und Sozialpädagogik ist die 60-Jährige heute in der städtischen Wohnungsnotfallhilfe tätig. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen hilft sie Menschen, die vom Verlust ihrer Bleibe betroffen oder bedroht sind.
Auch hier musste sie lernen, Grenzen zu ziehen, um nicht innerlich auszubrennen. Zumal die früher moderaten Fallzahlen seit Jahren emporschnellen und es zunehmend schwer wird, jedem Schicksal gerecht zu werden. „Ich bin ein Hornochse“, sagt sie lachend, „will auch im Dienst alles perfekt machen. Aber es geht nur bis zu einem gewissen Punkt.“
Jeder Fall ist einzigartig
Dann ist sie froh und dankbar über die gute Beziehung zu den Söhnen, den Rückhalt ihres Mannes, der als Ingenieur arbeitet. Die bewältigte Erkrankung des Sprösslings, all die schweren Jahre, bei denen sie sich selbst manchmal fragt, wie sie es als Mensch und Mutter nur geschafft hat – all das schweißt zusammen, gibt kleineren Alltagsproblemen viel weniger Gewicht.
Ratschläge für Menschen, die selbst in einer schweren Lage sind, kann und will Schulze-Rothnauer freilich nur bedingt geben, denn jeder Fall ist anders, individuell, einzigartig. Und sie selbst, die seinerzeit im Krankenhaus einige Todesfälle miterlebt hat, weiß genau: „Wir hatten ja noch ‚Glück‘, weil unser Kind eine Krankheit hatte, die man heilen konnte.“
Es gäbe weitaus Schlimmeres, wenn Kinder etwa durch Krankheiten und Unfälle ihr Leben verlieren oder ein Leben lang eingeschränkt bleiben. Zumindest könne man versuchen, sich schöne Augenblicke zu schaffen, sich bei Bedarf gegebenenfalls professionelle Hilfe holen. Und: Man muss ganz besonders viel Geduld aufbringen, sich kleine Etappenziele setzen – davon ist Schulze-Rothnauer aus eigener Erfahrung überzeugt.
„Ich bin ein Mensch mit Ecken und Kanten“
Für ihre persönliche Zukunft wünscht sie sich, beim Ruhestand in ein paar Jahren noch die gleiche Kondition zu haben wie heute, um dem nachzugehen, was sie schon jetzt gern zum Ausgleich tut – Sport treiben, Berge besteigen, herumreisen, singen. Sport sei ihr Leben, sagt sie, und sie sei ja ein kämpferischer Mensch, der die Herausforderung mag. Daher überlegt sie sogar, nochmal ein Studium aufzunehmen, um auch mental fit zu bleiben, und sich ehrenamtlich einzubringen.
Auf einem Heldensockel sieht sie sich überhaupt nicht – im Gegenteil: „Ich bin ein Mensch mit Ecken und Kanten“, betont Schulze-Rothnauer. Aber vielleicht könne ihre Geschichte ja dem einen oder anderen doch ein wenig Mut machen, wie viel der Mensch manchmal aushalten und überwinden und durch eigenes Handeln anstoßen kann.
Letzteres merkt sie übrigens auch an den Heimkindern, die sie früher betreute. Zu denen hat Schulze-Rothnauer nach wie vor Kontakt. Einer, der Anfang der Achtziger ins Heim kam und immer panische Angst vorm Zahnarzt hatte, ist heute Straßenbahnfahrer bei den LVB. Irgendwann rollte er mit seiner Tram am Wahrener Rathaus entlang, sah zufällig Heike Schulze-Rothnauer auf dem Gehsteig, bimmelte und grinste sie aus der Fahrerkabine fröhlich an. Seine Zähne hatte er sich in der Zwischenzeit machen lassen.
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