Ein Kontaktabbruch zu den Eltern ist gar nicht so selten, aber in der Gesellschaft oft noch ein schambesetztes Tabuthema. Wir haben einen jungen Mann getroffen, der mit uns offen über seine zerrüttete Beziehung zu Mutter und Vater gesprochen hat.

Lange hat Tammo die geballte Faust in der Tasche gelassen. Die ständigen Vorwürfe, Herabwürdigungen und Sticheleien seiner Eltern heruntergeschluckt. Doch dann eskalierte es. Seit über einem Jahr hat der 33-Jährige faktisch keinen Kontakt mehr zu Mutter und Vater.Tammo heißt eigentlich anders, möchte aber nicht mit Klarnamen in die Zeitung. Er ist ein ganz normaler junger Mann, hat studiert, wohnt und arbeitet in einer sächsischen Großstadt, führt ein geregeltes Leben. Über seine familiären Wurzeln spricht er offen – doch das Geschehene wühlt ihn innerlich noch immer auf. Jener Tag im Frühsommer 2020, als er seine Eltern das letzte Mal sah.

Sein Vater hatte wieder mal auf die Welt herumgeschimpft und die Mutter ihren eigenen Sohn kurz zuvor nach einer Bemerkung eiskalt ausgelacht. „Da habe ich gesagt: Nein, jetzt ist Schluss hier“, erzählt Tammo. Seither herrscht Funkstille.

Zündstoff gibt es reichlich

Tammo ist kein Einzelfall. Offizielle Zahlen zum Thema Kontaktabbruch mit den Eltern gibt es nicht – doch der Hilfebedarf scheint da zu sein. Jeden Monat spiele das Thema in ihren Gesprächen eine Rolle, bestätigt Sozialpädagogin Eva-Maria Ritz. Als langjährige Leiterin der Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle des Bistums Dresden-Meißen in der Leipziger Löhrstraße ist sie jeden Monat mit Menschen konfrontiert, die mit Mutter oder Vater nicht mehr sprechen.

Häufig wenden sich Leute mit anderen Fragen an sie und der Kontaktabbruch zu den Eltern kommt erst in der Beratung ans Licht. Abseits tieferer Probleme in der Familie sind die konkreten Auslöser vielfältig: „Es sind so viele Ursachen oder Themen, wie es Menschen gibt.“

Häufig hätten Familien keine solide Streitkultur – „heiße Eisen“ wie jetzt COVID-19 oder vor einigen Jahren die AfD und die Flüchtlingspolitik können dann schnell zum Spaltpilz werden.

Rechnet man Fälle von schwerer Gewalt und sexuellem Missbrauch in Familien heraus, wo Kontaktabbrüche manchmal „überlebenswichtig“ seien, gäbe es im privaten Bereich oft Auslöser wie finanziellen Streit, Auseinandersetzungen ums künftige Erbe – wenn etwa Tochter oder Sohn die elterliche Firma nicht übernehmen möchten – oder Entscheidungen und Lebensweisen des Kindes, die der elterlichen Erwartung widersprechen. „Leistungsdruck ist eines der häufigsten Themen“, sagt Eva-Maria Ritz.

Leistungsdenken statt Liebe

So war es auch beim 33-jährigen Tammo. Leistung – darauf reduzierten ihn seine Eltern schon früh, ohne dass er es ihnen jemals recht machen konnte, von echter Liebe und Zuneigung ganz zu schweigen. „Ich habe das ganz tief in mir vergraben und ein Selbstbild entwickelt wie: Ich kann noch so gut sein, es wird eh nie reichen“, meint Tammo.

Schon in seiner Jugend kapselte er sich ab, wurde sich bewusst, die Eltern nicht sonderlich zu vermissen, wenn sie nicht da waren. Nie nahm er die beiden als Menschen wahr, auf die er vertrauensvoll zugehen kann, die emotional erreichbar gewesen wären.

Heute, mit über 30, spricht Tammo von einer Entfremdung im Verhältnis zu Mutter und Vater, die mit Schwankungen schon seit Jahrzehnten anhält und lange durch einen brüchigen Burgfrieden kaschiert wurde. Im Grunde hätten beide nie großes Interesse an seinen Gedanken, Ängsten, Träumen und Wünschen gezeigt. „Ich weiß nicht, wann sie das letzte Mal gefragt haben, wie es mir eigentlich geht.“

Vielmehr unterstellten sie dem Sohn schon vor vielen Jahren Probleme wie Verhaltensauffälligkeit, Computerspielsucht, Essstörungen oder Autismus, rannten mit dem Teenager zu Ärzten, ohne dass je eine der „Diagnosen“ bestätigt werden konnte. Unvergessen ist für Tammo, wie ihn die Eltern einmal vor eine Förderschule brachten – und drohten, diese „Dummenschule“ müsse er bald besuchen, wenn seine Leistungen so schwach blieben. Gerade derlei Momente von psychischer Gewalt und Demütigung brannten sich ihm nachhaltig ins Gedächtnis.

Manchmal, beim Grillen oder dem Besuch des Sommertheaters, lief es auch mal besser, erinnert sich Tammo, dann war die Stimmung gelöst. Doch mit seinen Versuchen, die Schieflage im Miteinander anzusprechen, prallte er auf eine Mauer: „Nein, das hast du falsch verstanden.“ Oder: „Das habe ich nie gesagt.“ Oder: „Wie kannst du so etwas nur sagen? Deine arme Mutter hat so viel für dich getan und jetzt sagst du so was!“

Irgendwann wurde es zu viel

Seine Eltern, heute Anfang 60, sieht Tammo daher kritisch. Beide seien verbohrt, hätten sich gemeinsam in einer Wagenburgmentalität und in einer dystopischen Vorstellung eingerichtet, würden in allem nur das Schlechte sehen. „Manchmal habe ich das Gefühl, die gehören gar nicht in diese Welt.“

Neid und Verbitterung könnten auch eine Rolle spielen, vermutet Tammo, denn beide zahlten ihm während des Studiums den gesetzlichen Unterhalt, genossen selbst aber nie vergleichbare Bildungschancen. Im Kern seien seine Eltern „ganz arme Schweine“, die zudem selbst von schwierigen Biographien geprägt sind, wie Tammo weiß.

Und dennoch: Als die Übergriffigkeit und absurden Vorwürfe – er lebe am Existenzminimum, er sei psychisch krank, er habe nie richtig gearbeitet, ohne sie wäre er heute in der Gosse, wie könne er sich so einen teuren Laptop kaufen, er sei das einzige Problem in der Familie – im Frühsommer 2020 ihren Höhepunkt erreichten, zog Tammo die Reißleine. Zuvor hatte der Kontakt noch leidlich funktioniert, wenn auch mit gehörigem Sicherheitsabstand.

Junge Erwachsene häufig betroffen

Lieblosigkeit, Leistungsdruck, keine familiäre Konfliktlösungsstrategie – was sich aus Tammos Geschichte herauskristallisiert, sei „absolut klassisch“, meint Claudia Haarmann. Die psychotherapeutische Heilpraktikerin aus Essen befasst sich seit vielen Jahren mit Fragen der Eltern-Kind-Bindung und hat ein Buch zum Thema Kontaktabbruch verfasst.* „Es ist ein sehr schambesetztes Thema, da redet niemand gerne drüber, schon gar nicht öffentlich“, weiß die Expertin.

Gerade die Gruppe junger Erwachsener von 18 bis Mitte 30 sei sehr stark davon betroffen. Schließlich, so Haarmanns Erklärung, nimmt ein Kind seine Umwelt, möge sie objektiv noch so ein Wahnsinn sein, zunächst als normal wahr. Erst mit der Pubertät, dem Ausbruch aus dem Korsett des Elternhauses, dem Aufbau eigener Freundschaften und Beziehungen werde das daheim Erlebte stärker eingeordnet, verglichen und hinterfragt. Das kann im jungen Lebensalter zum Bruch mit den Eltern führen.

Keineswegs, das betonen Eva-Maria Ritz und Claudia Haarmann, sind allein kalte Eltern das Problem. Häufig hat Haarmann Klienten in ihrer Praxis, die umgekehrt beklagten, sie kriegten keine Luft mehr, weil Mutter und Vater ihnen viel zu nahe kämen, beste Freunde ihrer Kinder sein und alles von ihnen wissen wollten. „Die können nicht akzeptieren, dass das Kind ein autonomer Mensch ist.“

Letzteres erlebte auch Tammo mit seinen Eltern: Als er ihnen von einer geplanten USA-Reise erzählte, wurde entgegnet, dort seien nur Kriminelle, alle hätten Waffen und er könne gar kein Englisch. „Die haben mich tagelang bequatscht.“ Als er die „penetrante Einmischung“ kritisierte, hieß es: „Eltern machen das eben so.“ Danach schraubte Tammo Erzählungen aus seinem Privatleben auf ein Minimum herunter.

Die Crux der Generationen

Ein Kontaktabbruch zu den Eltern, so individuell die Auslöser sind, hat immer eine Vorgeschichte, die auf dem Nährboden schlechter oder fehlender Familienkommunikation gedeiht – und er ist ein Transgenerationen-Problem. Das bestätigen sowohl Claudia Haarmann als auch Eva-Maria Ritz: „Inzwischen ist wissenschaftlich erforscht, dass man bis zur 7. Generation etwas weitergeben kann, wenn es nicht irgendwo aufgelöst wird“, sagt Ritz.

„Kontaktabbrüche können sich immer mal wieder in Familiensystemen manifestieren, wenn nie darüber gesprochen wird, warum.“ Mangelnde Streitkultur und Versöhnungsrituale in Familien tun dann ein Übriges.

Mit anderen Worten: Fragt man betroffene Eltern, werden die zumeist selbst von einem problematischen Elternhaus zu erzählen wissen. Das spricht sie nicht von der Verantwortung für ihr Verhalten frei, ist aber eine Erklärung, die beim Verstehen und Aufarbeiten helfen kann. So schildert auch Tammo Schwierigkeiten in den Familien seiner Eltern.

Gräbt man tiefer, so haben Gefühlskälte und Kommunikationsschwierigkeiten gerade in der Kriegs- und Nachkriegsgeneration viel mit der Geschichte zu tun, mit der Verdrängung des Leidens und einer vermittelten Härte, um weitermachen zu können, ohne zu fühlen, was im Außen passiert. Schmerz und Dramatik wurden quasi weggepackt.

Das ist jedenfalls Claudia Haarmanns Auffassung: „Wie sollen Eltern, die das gelernt haben, plötzlich überfließend in ihrem Herzen sein? Das würde ihnen Angst machen, denn dann würden ihre eigenen, unterdrückten Gefühle hochkommen. Es ist nicht leicht, wenn man gelernt hat zu funktionieren, da wieder herauszukommen.“

Ein Kontaktabbruch als Chance

Die hoffnungsvolle Nachricht: Sehr oft, so bestätigen es Eva-Maria Ritz und Claudia Haarmann, ist es möglich, dass sich erwachsene Kinder und ihre Eltern auch nach langer Zeit der Funkstille wieder annähern – ausgenommen die Fälle, wo es um schwere Gewalt und sexuellen Missbrauch geht.

Beide Seiten zusammenzubringen, „auf einer respektvollen Ebene“, ist Claudia Haarmanns Ziel. Gerade erst hatte sie eine junge Frau als Klientin, die sie über längere Zeit begleitet hat und die – sogar entgegen Haarmanns eigener Erwartung – die Beziehung zu ihrer Mutter wieder soweit kitten konnte, dass mittlerweile sogar gemeinsame Radtouren möglich sind.

Haarmann ist überzeugt: „Für mich ist ein Kontaktabbruch eigentlich eine Chance für die Familie.“ Eine Zeit des Abstands kann die Situation soweit entspannen, dass die Kinder zu sich selbst finden, um dann, auch nach Jahren, mit gesundem Selbstbewusstsein hinterfragen zu können, was in der eigenen Familie eigentlich schiefgelaufen ist und das Handeln der Eltern besser zu verstehen.

Doch die lange Zeit des Kontaktabbruchs kann für betroffene Kinder schmerzhaft sein. Obgleich keine Zahlen vorliegen, ist sicher, dass nur ein Bruchteil von ihnen überhaupt die Hilfe von Therapeuten und Beratungsstellen in Anspruch nimmt. Das sei auch gar nicht immer nötig, findet Claudia Haarmann: „Es geht auch allein, wenn man ein sehr nahes, gutes soziales Umfeld hat, wenn man die Möglichkeit hat, das auszusprechen.“ Wichtig sei es, Menschen zu haben, die einem nahe sind und von denen man sich verstanden fühlt, die etwas von der eigenen Gefühlswelt mitbekommen.

„Die Wut wird mich noch eine Weile begleiten“

So ist es auch bei Tammo, der für sich den Weg der „radikalen Akzeptanz“ gewählt hat, um den Kontaktabbruch mit den Eltern zu verarbeiten. Der 33-Jährige hat einen großen Freundeskreis und ein stabiles Umfeld, für das der offene Austausch über die Problematik kein Tabu ist. Für den jungen Mann ist die Botschaft wichtig, dass er Mutter und Vater nicht als Menschen verurteilt, ihnen keinesfalls irgendwelches Unheil wünscht.

Doch auch wenn er die Funkstille seit fast einem Jahr als Befreiung erlebt, kommt immer mal wieder die Wut in ihm hoch: Wut über die Kränkungen, die Grenzüberschreitungen und Entwertungen, die er erleben musste. „Ich bin wütend, dass ich soviel getan habe, es ihnen recht zu machen, und es hat trotzdem nicht gereicht. Die Wut ist schon besser geworden, aber sie wird mich noch eine Weile begleiten.“

Und irgendwo sei er auch traurig. Bis heute spüre er manchmal Spätfolgen des schlechten Verhältnisses zu seinen Eltern, etwa in übergroßem Leistungsehrgeiz, Selbstzweifeln im eigenen Urteilsvermögen und problematischen Partnerschaften.

Doch trotz allem: Tammo schaut optimistisch nach vorn, hat viele Pläne, ist gesund und wirtschaftlich unabhängig, freut sich auf alles, was noch kommen wird. Seinen Eltern hat er zu Weihnachten übrigens einen langen Brief geschickt, der immerhin beantwortet wurde – wenn auch eher kühl und knapp. Ob wohl irgendwann eine Annäherung möglich sein wird?

*Claudia Haarmann: Kontaktabbruch in Familien. Wenn ein gemeinsames Leben nicht mehr möglich scheint, 3. Aufl., München 2020, 22,00€. Informationen zur Autorin und zum Buch.

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„Wenn Mama und Papa aus dem Leben verschwinden“ erschien erstmals am 28. Mai 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 91 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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