Eltern werden geht ganz schnell, besonders der erste Akt des Schauspiels ist ein oft sehr flott Vorübergehender. Wer's dann ernst meint mit dem guten Start für's neue Erdenmenschenkind lernt - nach Party- und Konsumwelt - ein völlig neues Universum kennen - jenes der Hebammen, Wassergeburten, Erziehungsratgeber, Besserwisseromis etc.. Glücklich kann sich schätzen, wer dann auf Dr. phil. Gerlind Große trifft.
Die junge Dame ist Entwicklungspsychologin, hat selber drei Kinder und arbeitet am Max-Planck-Institut. Dazu trägt sie die Verantwortung für “Geburt aus der Mitte”. Was das ist, warum und für wen – alles Fragen, die Volly Tanner auf den Nägeln brannten. Deshalb stellte er sie auch:
Hallo Gerlind, schön, dass wir uns treffen und dabei ein Thema bereden können, welches äußerst wichtig ist aber trotzdem nie bis selten in den Medien vorkommt: die vorgeburtlichen Herausforderungen für Mütter und Väter und die wissenschaftlichen Hintergründe. Was machst Du denn nun ganz speziell bei “Geburt aus der Mitte”?
Ja, danke. Zunächst ist es ganz wichtig, dass es nicht nur um das Befinden der werdenden Eltern geht, sondern auch um die Erfahrungen, die das Kind in dieser vorgeburtlichen Zeit macht. Das wird leider oft total vergessen. Dabei sind diese frühen Erfahrungen – in der Schwangerschaft, während der Geburt und in den ersten drei Lebensjahren absolut prägend!
Meine Arbeit bei “Geburt aus der Mitte” hat deshalb immer zwei Zielrichtungen: einerseits möchte ich den Eltern helfen, individuelle Lösungen zu finden, wenn sie mit herausfordernden Situationen konfrontiert sind; andererseits will ich Umstände schaffen, in denen die neuen Menschen, die Babys, die in unsere Welt kommen, von Anfang an gut begleitet sind. Babies brauchen wirklichen Kontakt zu ihren Eltern – auch schon im Mutterleib. Sie wollen sich wahrgenommen fühlen, ihre Bedürfnisse mitteilen können und brauchen Eltern, die motiviert sind, darauf einzugehen, weil sie gelernt haben, wie wichtig das für ihre Kinder ist. Und ich gehe immer davon aus, dass alle Eltern das Beste für ihr Kind wollen.
Konkret heißt das, ich begleite Frauen und Männer, wenn sie Eltern werden. Als Geburtspsychologin biete ich Vorträge und Kurse zur mentalen Geburtsvorbereitung an. Und als Doula kann ich zusätzlich zur Hebamme auch die Geburt mitbegleiten und mich ganz um das seelische Wohl der werdenden Eltern kümmern. Nach der Geburt helfe ich, wenn es Krisen bei den Eltern gibt – Paarprobleme oder depressive Verstimmungen. Manchmal verläuft die Geburt auch ganz anders als gehofft und die Mutter plagt sich mit Wut und Schuldgefühlen. Und natürlich wenn die Interaktion mit den Kindern anstrengend ist, wenn es zum Beispiel exzessiv schreit, ganz wenig schläft, oder das Stillen nicht klappen will. Meistens liegen da Kommunikations- oder Bindungsprobleme zugrunde.
Warum ist das aber so wichtig?
Für die schwangeren Frauen und die werdenden Väter ist es so wichtig, weil es ein wesentlicher Übergang im Leben ist, auf den die allermeisten komplett unvorbereitet sind. Kaum jemand beschäftigt sich mit dem Thema Geburt bevor es ihn selbst betrifft. Und dann passieren so viele Veränderungen auf einmal! Die Beziehung ändert sich, meistens wollen die Paare noch umziehen oder heiraten. Die finanzielle Situation ändert sich, Rollenbilder tauchen auf und sollen erfüllt werden, Ängste um die eigene Freiheit gibt es vielleicht auch noch… Das erfordert eine enorme Anpassungsleistung und das in einer Zeit, in der zumindest bei der Mutter grade ganz viel in Energie in körperliche Prozesse fließt.
Es ist wichtig, weil der Verlauf einer Geburt zu 95 % durch die Psyche bestimmt wird! Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, dass verschiedene Methoden der psychologischen Geburtsvorbereitung ausnahmslos den Geburtsverlauf und die Eltern-Kind-Bindung positiv beeinflussen, also z.B. Selbsthypnose, Bindungsanalyse oder Achtsamkeitstraining. Schon allein die Begleitung durch eine Doula verbessert die Geburtserlebnisse statistisch signifikant. Einfach dadurch, dass die Frau eine vertraute, erfahrene Frau an ihrer Seite hat – und zwar nur für sich allein.
Für die Kinder ist es aber eigentlich noch wichtiger, dass der Lebensbeginn (und damit meine ich mindestens von der Empfängnis an) so gut und entspannt wie möglich verläuft – denn für sie hängt der Rest ihres Lebens davon ab. Das, was die Kinder im Mutterleib vorfinden – Anspannung oder Entspannung, Freude oder Traurigkeit, beeinflusst entscheidend ihre körperliche und seelische Entwicklung.
Heißt das jetzt, dass alle Schwangeren auf Teufel komm raus dem Stress entfliehen sollen? Nicht mehr arbeiten, den ganzen Tag meditieren etc.?
Nein. Stress ist ja nicht nur negativ. Alle größeren Ereignisse verursachen erhöhte Aktivierung. Ein gewisses Maß an Reizen ist sogar notwendig. Das, was schädlich ist – für Mutter und Kind -, ist Dauerstress; wenn die Mutter zwischen Arbeit, Umzug, Festen, Arztbesuchen und Telefonaten mit der Schwiegermutter nicht zur Ruhe kommen kann. So kann kein Raum entstehen, in dem Mutter und Kind ihre enge Verbindung fühlen können. Babies haben ein langsameres Tempo. Sie brauchen Zeit; sie nehmen alles wahr und können nicht filtern, was wichtig und was unwichtig ist. Das heißt, sie brauchen den intensiven Kontakt zu ihren Eltern, um sich geborgen zu fühlen und Orientierung zu finden. Wenn sich die Mutter oder Vater in einer stressigen Situation – ganz besonders zum Beispiel vor einem Kaiserschnitt – mit dem Baby im Bauch verbinden und ihm erklären, was gerade passiert, dann hat das Ereignis gleich viel weniger drastische Auswirkungen auf die Psyche des Kindes. Babies, die so wahr- und ernstgenommen werden, fallen nach der Geburt durch ihre Ruhe, ihre Wachheit und ihren klaren Blick auf.
Wie und wo kann man Dich erreichen? Und warum gerade da? Ich meine, Du hättest ja auch eine Praxis in Anger-Crottendorf eröffnen können, dort sollen die Mietpreise für Gewerbe ja relativ am Boden liegen.
Erreichen kann man mich am besten per Telefon oder Email. Im Moment habe ich mir einen Raum in einer Praxis von zwei sehr lieben Kolleginnen in Schleußig angemietet. Warum dort? (lacht) Weil in Schleußig die meisten Schwangeren herumlaufen – da haben sie es nicht so weit! Naja, Schleußig ist einfach ein sehr schöner Stadtteil mit vielen Familien – gefühlsmäßig passt das gut zu meiner Arbeit. Aber ich fahre auch viel zu den Familien nach Hause, wenn es das einfacher macht.
Wie bist Du dazu gekommen, gerade so etwas zu machen? Hast Du so etwas studiert? Vorgeburtliche Psychologie ist ja nicht gerade das Thema auf das einen die Mitarbeiter des Jobcenters beim Gespräch über die weitere persönliche und berufliche Entwicklung bringen.
Alle wichtigen Themen und Interessen entstehen aus eigenen Erfahrungen. Auch bei mir liegt der Anfang dieser Arbeit in meiner ersten eigenen Schwangerschaft vor 10 Jahren. Damals habe ich noch Übersetzen studiert und habe mich einfach nur gewundert, dass sich niemand um die seelische Komponente meiner Schwangerschaft kümmerte: die Ärztin hat immer nur geschaut, ob das Kind ordnungsgemäß wächst und bei der Hebamme ging es um praktische Fragen, wie Wickeln und Stillen und ich habe gelernt, wie ein Geburtsprozess schematisch gesehen abläuft und ein paar Entspannungsübungen gemacht. Für die Geburt hat mir das nicht viel geholfen. Ich hatte das Gefühl da fehlt ein wesentlicher Aspekt. Heute weiß ich, wie wichtig zum Beispiel die eigene Geburtserfahrung für den Verlauf der Geburt ist und was einen alles daran hindern kann, loszulassen.
Später, als ich dann in der Entwicklungspsychologie promoviert habe und mein zweites und drittes Kind bekam, hat mich das Thema immer weiter begleitet und immer mehr in seinen Bann gezogen. Schließlich wurde mir klar, dass es das ist, was ich in die Welt bringen möchte und habe mir ganz gezielt das Handwerkszeug dafür zusammengesucht; begann die Ausbildung zur systemischen Familientherapeutin, beschäftigte mich mit Selbsthypnose, Babytherapie, Faktoren der Bindung und vielem mehr.
Jetzt soll Dir aber auch hier die Möglichkeit gegeben werden Deine eigenen Bedürfnisse zu artikulieren. Was ist Dir ganz persönlich wichtig? Was möchtest Du mal unter die Leserscharen bringen?
An dieser Stelle möchte ich gerne eine Lanze für das kleine Wörtchen “UND” brechen. Unser Leben, unsere ganze Kultur ist geprägt vom Dualismus. Wir lernen – und später glauben wir es – dass es immer nur Entweder-Oder gibt: Entweder Körper oder Geist, entweder ich liebe oder ich hasse jemanden, entweder jemand ist für mich oder er ist gegen mich, entweder ich bin wissenschaftlich oder ich bin spirituell.. Ich sehe in meinem eigenen Leben, welche Auswirkungen das hat und sehe es auch bei meinen Mitmenschen, bei den Kollegen, bei Freunden, bei Klienten… Die Vorstellung, die Welt wäre entweder schwarz oder weiß – oder müsste so sein – verursacht sehr viel Leid und Qual, das Gefühl nicht richtig zu sein. Dabei ist das eigentlich eine kindliche Weltsicht!
Kinder wollen immer wissen, wer im Film die Guten und wer die Bösen sind. Und es ist eine der schönsten Errungenschaften des Erwachsenwerdens, zu entdecken, wie viele Grautöne das Leben in Wirklichkeit bereit hält, ganz viel “Sowohl-Als-Auch”: ich kann eben jemanden gleichzeitig lieben UND hassen, kann gleichzeitig enttäuscht oder wütend sein UND hoffnungsfroh, kann für einen Menschen sein UND gleichzeitig Vorbehalte haben, seine Schattenseiten auch sehen. Es ist ein typisch westliches Problem, durch Descartes und die Herrschaft des Rationalen verstärkt. Alles soll kategorisierbar sein, entweder X oder Y. Aber das Leben und Lebewesen lassen sich nicht in Kategorien pressen, ohne darunter zu leiden. Also müssen wir die Schubladen öffnen, mit dem vorübergehenden Chaos zurechtkommen und dann eine andere, gesündere Art der Ordnung finden, die dem Sowohl-Als-Auch des Lebens gerecht wird.
Danke für das höchst interessante Interview!
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