Was bedeutet eigentlich "Priorität"? Davon schwätzt doch heute jeder Politiker. Das Wort scheint entwertet wie der Kupfer-Cent. Wenn ein wichtiges Arbeitsgebiet über Jahre vernachlässigt wurde, bekommt es einfach den Stempel "Priorität". Und dann liegt es ganz oben auf dem To-do-Stapel, nicht wahr? - So wie der Kita-Ausbau in Leipzig. Akut seit 2004, wie Grünen-Stadträtin Katharina Krefft feststellt.

Damals war die Geburtenzahl in Leipzig wieder über 4.000 gestiegen. Eine schöne Entwicklung, aber – oberflächlich betrachtet – noch nicht ganz so dramatisch wie heute. Nur ein Problem wurde sichtbar, das eng mit der Re-Urbanisierung Leipzigs zu tun hat. In jenen Stadtvierteln, die seit 1998 von der zuziehenden jungen Bevölkerung bevorzugt wurden, wurden die Kita-Betreuungsplätze damals schon knapp. Wer einen wohnortnahen Betreuungsplatz suchte, merkte das. “Der erste Antrag, den ich damals mit schrieb, war einer, die Platzzahl entlang dem Auenwaldstreifen auf das Durchschnittsniveau der Stadt anzuheben”, erinnert sich Krefft, die damals zum ersten Mal in den Stadtrat eingezogen war.

Bei 27 Prozent des Stadtdurchschnitts lag die Quote damals. Daran hat sich seitdem nicht allzu viel geändert. Dafür begann sich das in der Südvorstadt, in Connewitz, Gohlis und Schleußig schon spürbare Problem auszubreiten auf immer mehr Ortsteile. 2008 brannte auch außerhalb der Pionierviertel der Re-Urbanisierer die Luft. Und wer sein Kind irgendwo in eine Einrichtung bekommen wollte, begann jetzt regelrecht Runden zu drehen durch jede nur erreichbare Kita. Das war der Zeitpunkt, zu dem die Stadt ihr so schön gedachtes Kitaplatz-Portal aus der Taufe hob, sich richtig feiern ließ dafür und fast zwei Jahre bis zu dem Eingeständnis brauchte, dass das Portal völlig gescheitert war.

Mittlerweile sind die Geburtenzahlen deutlich über 5.000 gestiegen. Und im September gestand Sozialbürgermeister Thomas Fabian dann ein, dass aktuell 700 Plätze fehlten. Das Problem wird sich 2013 noch weiter verschärfen. Ab dem 1. August gilt der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Der Termin steht. Und das war Ansporn für die Stadt, 2013 gleich mal 2.500 neue Betreuungsplätze aus dem Boden stampfen zu wollen. Elternverbände haben schon gleich nach Verkündung der Pläne ihre Skepsis angemeldet: Sie glauben nicht mehr an die vollmundigen Zahlen.

“In den letzten Jahren wurden immer wieder viele Neubauprojekte in die Bedarfsplanung aufgenommen, die dann in der nächsten Planung wieder auftauchten und in der übernächsten – und dann verschwanden sie ganz”, erzählt Katharina Krefft, schul-, sozial- und gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Stadtrat. “Es wurden immer nur 40 bis 60 Prozent der angekündigten Neubauten auch gebaut.”

Wäre das nur ein, zwei Mal so passiert, wäre das kein Problem gewesen. Aber auch Felix Ekardt, OBM-Kandidat der Grünen, schätzt ein, dass die Kita-Problematik in Leipzig in den letzten sieben Jahren nie wirklich die angekündigte Priorität hatte. “Dann hätte der amtierende OB auf einige seiner Prestigeprojekte nämlich verzichtet”, sagt Ekardt am Donnerstag, 7. Februar. Zusammen mit Katharina Krefft und Christin Melcher aus dem Vorstand des Grünen-Kreisverbandes stellte er den “Aktionsplan Kita 2020” der Grünen vor, den er jetzt noch einmal als Futter in seinen Wahlkampf gibt. Aber da er damit rechnet, dass er möglicherweise die OBM-Wahl-Runde am 17. Februar nicht gewinnt, ist es auch ein Arbeitsprogramm für die Grünen-Fraktion.Einiges ist schon in den letzten Jahren mit Anträgen untersetzt worden. Mancher Antrag wurde auch von einer keineswegs problembewussten Stadtratsmehrheit abgebügelt. Wie zum Beispiel die Bedarfserhebung bei den jungen Eltern, denjenigen, denen das Ganze am heißesten auf den Nägeln brennt. “Alle Eltern kommen kurz nach der Geburt ihrer Kinder in Kontakt mit der Stadt”, erzählt Katharina Krefft, selbst vierfache Mutter. “Nämlich zwei, drei Wochen nach der Geburt melden sie alle ihr Kind standesamtlich an. Da ist es doch ein Leichtes, den Eltern drei simple Fragen zu stellen.”

Nämlich danach, wann sie ihr Kind in Betreuung geben möchten, wo am liebsten und in welcher Form. “Das wissen Eltern in der Regel alles, wenn das Kind geboren ist. Aber die Verwaltung lehnte den Antrag mit der Begründung ab, das sei viel zu aufwändig”, erzählt Krefft. Die nun bei der Anmeldung ihres Jüngsten im Standesamt – einen sechsseitigen Fragebogen in die Hand gedrückt bekam.

Der Fragebogen scheint schon eine Weile im Gebrauch zu sein, denn im Quartalsbericht gab es schon eine erste Auswertung dazu. Mit der lakonischen Feststellung, dass augenscheinlich vor allem besserverdienende und höher gebildete Eltern den Fragebogen ausgefüllt haben. “Bei diesem Umfang auch verständlich”, sagt Krafft. “In dieser Form ist die Befragung natürlich völlig wertlos.”

Aber sie ist auch Zeichen dafür, wie schwer sich die Verwaltung tut, die brennenden Probleme der jungen Eltern in Leipzig überhaupt zu begreifen. Mit dem Aussitzen der Problematik der wohnortnahen Kinderbetreuung (nicht alle Eltern können sich zum Kita-Shuttle zwei Pkw leisten) begann es, mit der übertriebenen Befragung geht es weiter, mit der sturen Verweigerung, die Kita-Platz-Vergabe in irgendeiner Art zentral zu steuern, hört es nicht auf. Auch das ein Antrag der Grünen. Es geht dabei nicht um die zentrale Verwaltung der knappen Platzkapazitäten – aber es geht um das, was man für gewöhnlich Service nennt: Eine zentrale Stelle, die über den Bedarf informiert ist, über die aktuell verfügbaren Plätze – und die die suchenden Eltern mit den Kindertagesstätten in Verbindung bringt, die den gesuchten Platz für ihr Kind haben. Das ist Service. Und es greift auch nicht in die so gern hoch gehaltenen Rechte der freien Träger ein.

Wobei man beim Thema vorschulische Bildung wäre und den Bildungsstandards, die in den Einrichtungen umgesetzt werden. Nicht überall auf gleichem Niveau. Aber in beidseitige Vereinbarungen könnte man solche Standards in allen Leipziger Kitas schaffen, findet auch Ekardt.

Der Aktionsplan der Grünen umfasst die ganze Problematik. Von den verlässlichen Zahlen, die es nicht gibt (auch die 75 Prozent Betreuungsquote, mit der die Stadt argumentiert, ist nicht durch richtige Erhebungen untersetzt) über ein “Aktionsteam”, das den Kita-Ausbau tatsächlich vorantreibt, bis hin zum Vorbeugen gegen den Erzieherinnenmangel. Sechs große Themenblöcke – plus die schon angeschobenen Vorhaben der Fraktion. Auch das Thema einer 24-Stunden-Kita taucht auf, die es in Leipzig immer noch nicht gibt, obwohl Tausende junger Leipziger in Schichtdiensten arbeiten – bei den Logistikern am Flughafen sogar mitten in der Nacht. “Aber die Betreuungszeit ist gerade ein Thema für Alleinerziehende”, sagt Ekardt. “Die können viele der ihnen angebotenen Jobs nicht antreten, weil sie nicht sicherstellen können, dass sie ihr Kind zu den üblichen Arbeitszeiten betreut bekommen. Sie haben in der Regel niemanden, der mal schnell einspringen kann.”

Und die üblichen Arbeitszeiten gehen nicht von 8 – 17 Uhr – weder im Einzelhandel noch in der Logistik oder in den ganzen Dienstleistungsberufen, die in Leipzig der Jobmotor der letzten Jahre waren.

Wer von “Priorität” redet, aber nicht wirklich nachempfinden kann, wie es zehntausenden junger Eltern in Leipzig geht, der sieht die Dramatik nicht. Der zuckt auch dann noch die Schultern, wenn die Ziele beim Kita-Ausbau Jahr für Jahr nicht erreicht werden. Ihn kümmert’s ja nicht. So wurde “Priorität” in diesem Fall zu einer schönen Wortblase.

Der Aktionsplan der Grünen als PDF zum download.

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