Seit dem 15. Oktober kann man im Online-Forum des Projektes "Leipzig weiter denken" auch über die "Mehrgenerationenstadt" Leipzig diskutieren. Aber auch hier will die Diskussion nicht so recht in Gang kommen. Das Problem kann dasselbe sein wie bei den "nachhaltigen Stadtfinanzen": Es steckt in einer Schublade. In der Schublade findet man keine Lösungen.
Erste Schublade: die Reduzierung des Themas auf die “problematische Gruppe” der Alten und auf eine Problematik unter den Stadtteilen. “Seit einigen Jahren sind in Leipzig wachsende Polarisierungstendenzen zu erkennen: Durch die demografische Entwicklung gibt es Stadtteile mit immer höherem und Stadtteile mit immer geringer werdendem Altersdurchschnitt. Auch die soziale Entwicklung zeigt eine zunehmende Differenzierung zwischen armutsbedrohten und wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen. Aus diesem Grund ist der soziale Aspekt der Nachhaltigkeit – das Zusammenleben in der Stadt – ein Vertiefungsthema im Projekt ‘Leipzig weiter denken'”, heißt es auf der Online-Diskussionsseite zum Thema. Auch wenn man schon so eine Ahnung hat, dass es so nicht gedacht werden kann.
“Im Fokus der Diskussion steht die Botschaft ‘Leipzig ist eine Stadt für alle Generationen’ und die Fragen: Wie lassen sich Kinderfreundlichkeit, Familienfreundlichkeit und Seniorenfreundlichkeit in Einklang bringen? Wie lassen sich Möglichkeiten alternsgerechten Wohnens und Mehrgenerationenwohnens im Stadtteil befördern? Welche Möglichkeiten der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung zwischen Jung und Alt außerhalb von Familien gibt es?”
Die Ahnung stimmt. Die Formulierung ist schon falsch. Es gibt – wenn man Stadt wirklich als Organismus und nachhaltig denkt – keine Unterschiede zwischen “Kinderfreundlichkeit, Familienfreundlichkeit und Seniorenfreundlichkeit”. So seltsam das klingen mag. Aber “familiengerecht” reicht völlig. Wer eine familiengerechte Stadt organisiert, denkt alle Aspekte mit – von der Kindertagesstätte über den Tante Emma Laden bis zur weitestgehenden Barrierefreiheit. Auch so ein Wort, das der Stadtverwaltung nicht so unbekannt sein dürfte: Manchmal ist die öffentliche Diskussion längst weiter als die Amtswalter in den Rathäusern.
Und so gibt es als Angebot im Online-Forum auch wieder vier Thesen, die in die Irre führen: “Demographischer Wandel in unserer Stadt: Bedrohung oder Chance? Miteinander der Generationen im Alltag: Wie sehen Ihre Kontakte aus? Zusammenleben im Alltag: Wo finden Begegnungen statt? Angebote für Jung und Alt: Wie können sie aussehen?”
Man sieht, wie sich Amtsdenken reduziert auf “Begegnungsstätten” und einen vagen Konflikt zwischen “Jung und Alt”. und wie das einfach nicht zusammenfließt. Der Grund ist simpel: Man denkt die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen als Problemgruppen, nicht als Selbstverständnis. Ein Fehler, den auch die sächsische Landespolitik pflegt, wenn es um demografische Entwicklungen geht.
“Demographischer Wandel” ist das Selbstverständlichste in einer menschlichen Gesellschaft. Geburt und Tod, Ab- und Zuwanderung sind das Leben einer Stadt. Das kann man dramatisieren – wie es die sächsische Landesregierung gern tut. Oder die bundesdeutsche. Erst richtet man einen gewaltigen Scherbenhaufen an, löst Wanderungs- und Desozialisationsprozesse aus, deren Folgen selbst ein drittrangiger Mathematiker berechnen kann – und dann steht man 20 Jahr später da und jammert wie die Katzen Minz und Maunz in der “Gar traurigen Geschicht von dem Feuerzeug” im “Struwwelpeter”.
Natürlich haben die Akteure, die das 1990/1991 alles anrichteten – nicht die Bohne nachhaltig oder gar in die Zukunft gedacht. Ihnen waren die mittelfristigen Folgen ihrer Entscheidungen schnuppe.
Die Kommunen dürfen es ausbaden und haben es jetzt mit den Nachfolgern dieser Entscheider zu tun, die genauso kurzfristig und unverantwortlich handeln. Das Hopplahopp der aktuellen Politik hat nichts mit Nachhaltigkeit zu tun.
Hat Leipzig ein Demografie-Problem? Hat Sachsen eines? – In beiden Fällen: Nein. – All die Verwerfungen, die sich bemerkbar machen, sind Folgen falscher Weichenstellungen. Haben nicht einmal etwas mit gemutmaßten Konflikten zwischen Generationen zu tun, sondern primär mit Verteilungsgerechtigkeit und Infrastrukturen.
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“Am Ende des Prozesses sollen konkrete Projektvorschläge stehen, die auf die tatsächlichen Anforderungen des Stadtteils zugeschnitten sind, aber auch Ideen für die Situation in anderen Stadtteilen liefern. Die wissenschaftlich ausgewerteten Ergebnisse fließen außerdem sowohl in die Umsetzung der Alten- und Jugendhilfeplanung als auch in die integrierte Stadtteilentwicklung ein”, heißt es auf der Online-Diskussionsseite.
Das ist Kleinklein. Es geht nicht um einzelne Stadtteile, die vielleicht ein Problem haben. Es geht darum, dass alle, wirklich alle Stadtteile familienfreundlich werden. Das muss durchdekliniert werden. Was braucht man dazu alles? Und wie sind alle Stadtteile damit ausgestattet? – Aber zur Mehrgenerationenstadt gehört natürlich mehr.
Auch hier ist der umtriebige “TimmySelle” bislang der Einzige, der versucht, das Thema weiter zu denken: “Ich rate daher sich mit dem Bildungs-, gesundheitlichen und sozialen Versorgungssystem auseinander zu setzen und darin Investitionen vor allem immaterieller Art zu tätigen. Die Stadtverantwortlichen müssen daher eine Versorgungsstruktur schaffen, die dafür sorgt, dass Systeme der Bildung, Soziales und Gesundheit wieder menschenwürdig funktionieren.”
Heißt: barrierefrei. Und da ist man schnell bei den wichtigsten Barrieren in Leipzig, die allesamt finanzieller Art sind. Das betrifft längst nicht mehr nur die armen Alten, sondern auch die Jungen. Da kommt man schnell zu den Tarifen der kommunalen Versorger, zur wachsenden Schuldenproblematik, zu ausgedünnten öffentlichen Unterstützungsangeboten. Aber auch zur Betreuungsproblematik für Kinder, zur Unterbesetzung der Polizei und zu einer Beschäftigungspolitik, die über 50-Jährige immer noch als Problemarbeitsuchende betrachtet und sie zum Blättersammeln in den Park schickt.
Die amtliche Gettoisierung beginnt schon im Kopf.
Und die Frage bleibt: Wie sieht eine generationengerechte Stadt aus? Das hat auch mit der Einkaufssituation zu tun, der Sicherheit auf Magistralen und in Ortsquartieren, mit Verkehrsorganisation und einer Wirtschaftspolitik, die weniger von Centern und Big Playern besessen ist, dafür die lokalen Strukturen zu stärken weiß. Wozu auch Regeln für faire Beschaffung und faire Bezahlung gehören. Was auch an dieser Stelle diskutiert werden muss. Denn hinter den scheinbar klassischen Rastern tauchen die Verwerfungen ins Licht – die Alleinerziehenden, die Schulabbrecher, die Minijobber …
Da müssen auch Stadtverantwortliche lernen, Strukturen zu stärken, die die Schwächsten integrieren und allen mehr Gestaltungs- und Mitwirkungsräume schaffen. Bloße Begegnungsräume von Jung und Alt sind da zu wenig.
Die Online-Diskussion zur “Mehrgenerationenstadt”:
www.weiterdenken.leipzig.de/lewd/themen/mehrgenerationenstadt
“TimmySelles” Beitrag zum Univerfsal-Design der Stadt:
www.leipzig-weiter-denken.de/mehrgenerationenstadt/wd-de/31_dialog.asp?mSel=0,16,4&bUrl=wd-de/index.asp
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