Er saß länger in Untersuchungshaft – mutmaßlich zu Unrecht. Denn der gewaltsame Übergriff, den er in Leipzig begangen haben soll, konnte so aller Wahrscheinlichkeit nach nicht stattgefunden haben, wie selbst die Staatsanwaltschaft im Gerichtsprozess einräumen musste. Der Betroffene, der hier Andrej M. heißen soll, wurde zwar umgehend freigelassen, wartete aber monatelang auf die Haftentschädigung vom Staat. Warum?
Die aufbrausende Art von Andrej M., eines Mannes in den Fünfzigern, der tatsächlich anders heißt, schien vor Gericht einer Verzweiflung zu entspringen. Er war angeklagt, weil er vor längerer Zeit eine Person sexuell genötigt und verletzt haben soll. Vehement beteuerte er seine Unschuld – und letztlich brach die Anklage wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Aussage des vermeintlichen Opfers, das als psychisch auffällig galt, war unglaubhaft und widersprüchlich, deckte sich nicht mit Erkenntnissen der Polizei. Das musste am Ende sogar die Staatsanwaltschaft zugeben.
Wie hoch ist die Haftentschädigung in Deutschland?
Doch mit dem kaum überraschenden Freispruch, den alle Seiten gefordert hatten, gingen die Probleme für den wahrscheinlich unschuldigen Andrej M. erst recht los. Verteidiger Andreas Meschkat stellte umgehend einen Antrag auf finanzielle Entschädigung für die erlittene U-Haft seines Mandanten.
Der übliche Satz in Deutschland wurde bei der letzten Reform vom September 2020 auf 75 Euro pro Hafttag angehoben – über Wochen und Monate kann zumindest ein Betrag zusammenkommen, der den Neustart in Freiheit etwas erleichtert. „Für einen Bürgergeldempfänger ist es viel, für einen Arbeitnehmer wenig“, meint Rechtsanwalt Andreas Meschkat gegenüber der LZ.
Der Leipziger Jurist, der Andrej M. vor Gericht verteidigte, hat über 30 Jahre Berufserfahrung, ist seit 2001 ausgewiesener Fachanwalt für Strafrecht. Und stellt klar: Reputationsverlust, Hafttraumata und Verdienstausfälle können ohnehin schwerlich kompensiert werden, wenn jemand unschuldig im Gefängnis war. Trotzdem seien 75 Euro pro Tag „auf jeden Fall zu wenig.“
Wöchentlich rief er seinen Verteidiger an
Vor allem aber: Es dauere schier ewig mit der Auszahlung. Als sein Mandant Andrej M. das Gericht als freier Mann verlassen durfte, musste er sogar den Fahrschein zur JVA selbst zahlen, um seine Sachen noch abzuholen, so Meschkat. Zwei Tage darauf läutete Andrej M. verzweifelt bei Meschkats Anwaltskanzlei am Südplatz: Er habe schlicht keine finanziellen Mittel mehr, dabei wollte er in sein Heimatland zurückkehren, wo er bereits ein Haus verkauft und Unterhaltspflichten hatte.
Anwalt Meschkat drückte dem Klienten nach erregter Diskussion schließlich 200 Euro aus seinem Portemonnaie in die Hand, damit er sich wenigstens ein Busticket nach Hause kaufen konnte. Für den routinierten Strafverteidiger ist es „unbefriedigend“, dass es sogar für Fallkonstellationen wie diesen keinen Notfallmechanismus gibt, Geld aus der Staatskasse vorzustrecken. „Da hat die Justiz ein gewaltiges Defizit.“
Monatelang rief Andrej M. seinen Anwalt dann wöchentlich an, erkundigte sich, wann die Entschädigung kommt. Meschkat musste ihn immer wieder vertrösten – und sein telefonischer Druck beschleunigte das Verfahren nicht.
Generalstaatsanwaltschaft hält sich weitgehend bedeckt
Warum dauert es so lange? Auf LZ-Anfrage erläutert Ricardo Schulz, Sprecher der Leipziger Staatsanwaltschaft, das prinzipielle Verfahren: Laut „Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen“ (StrEG) ist jenes Verfahren zweistufig, wobei im ersten Schritt durch das Gericht nur die „Grundentscheidung“ gefällt und kommuniziert wird, dass dem Betroffenen überhaupt eine Entschädigung zusteht.
Deren konkrete Höhe wird erst im nächsten Schritt durch das „Betragsverfahren“ ermittelt, das einen eigenständigen Verwaltungsvorgang darstellt. Hierfür verweist Schulz auf die Zuständigkeit der Generalstaatsanwaltschaft Dresden, welche im Fall Andrej M. die Strafakten zusammen mit den StrEG-Unterlagen und dem Entschädigungsantrag erhalten habe. Der Freispruch von Andrej M. lag aber schon zu diesem Zeitpunkt mehrere Monate zurück.
Als die LZ zu seinem Fall nachhakt, bestätigt die Generalstaatsanwaltschaft im Dezember 2024 lediglich den Eingang der Unterlagen etwa drei Wochen zuvor, die nunmehr einer Sachbearbeiterin zur Entscheidung vorlägen. Warum sich das Verfahren so lange verzögert hat und mit welcher Restdauer zu rechnen sei, lässt Behördensprecher Dr. Patrick Pintaske unbeantwortet.
Auszahlung erfolgte nach mehreren Monaten Anfang 2025
Immerhin: Anfang 2025 ging die Entschädigung endlich bei Anwalt Meschkat ein, der sie an seinen Mandanten weiterleitete. „Es hat, wie vorhergesagt, ein paar Monate gedauert. Es wurde in voller Höhe antragsgerecht ausgezahlt“, so Andreas Meschkat Ende Januar gegenüber der LZ. Trotzdem hinterlässt der Fall für ihn einen faden Beigeschmack.
Nicht nur wegen der langen Wartezeit und den Folgen, nicht nur, weil Zusatzansprüche bei erlittenem Verdienstausfall in der Praxis oft nur schwer durchzusetzen sind: Denn hier greifen bestimmte Fristen, vor allem aber müssten der Justiz grobe Fahrlässigkeit oder vorsätzliche Fehler zweifelsfrei nachgewiesen werden.
Meschkat sieht die Defizite schon vor einem etwaigen Strafprozess, nämlich im Stadium des Ermittlungsverfahrens und bei der Evaluierung von Haftgründen durch Ermittlungsrichter. Hier, so die Ansicht des Anwalts, sollte generell genau hingeschaut werden, um Fälle wie den beschriebenen im Vorfeld möglichst zu verhindern.
Doch die akribische Fallprüfung würde, unter anderem aufgrund von Faktoren wie Personalmangel und chronischer Überlastung, eben längst nicht immer vorgenommen. Mit Folgen, die das Leben eines Menschen, für den im Rechtsstaat die Unschuldsvermutung gilt, im Extremfall einschneidend verändern können.
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