Wendepunkt im Verfahren um den Vorwurf des zweifachen Mordversuchs am „Tag X“: Wie jetzt bekannt wurde, hat das Landgericht Leipzig den Haftbefehl gegen einen Verdächtigen am vergangenen Freitag aufgehoben und seine Freilassung angeordnet. Möglicherweise stellt sich die Sachlage uneindeutiger dar, als es zunächst den Anschein hatte. Was es für die Anklage bedeutet, bleibt offen.

Er soll laut Staatsanwaltschaft am „Tag X“ vor über einem Jahr Brandsätze, Steine und Pyrotechnik auf Polizeieinheiten im Süden Leipzigs geworfen haben. Doch nun hat das Landgericht den Haftbefehl gegen einen 25-Jährigen am letzten Freitag aufgehoben und seine Freilassung aus der Untersuchungshaft verfügt.

Hier saß der junge Mann seit Januar 2024 ein, nachdem er sich mit anwaltlicher Begleitung, vermutlich aufgrund öffentlichen Fahndungsdrucks, den Behörden gestellt hatte. Seither schwieg er zu den Vorwürfen.

Zweifacher Mordversuch und weitere massive Vorwürfe

Erst in der vergangenen Woche hatte die Staatsanwaltschaft im Rahmen der Anklageerhebung ihre Sicht der Dinge bekannt gegeben: „Dem nunmehr Angeschuldigten wird zur Last gelegt, sich vermummt und dunkel gekleidet an den schweren gewalttätigen Ausschreitungen am sogenannten ‚Tag X‘ in Leipzig am 3. Juni 2023 im Bereich des Alexis-Schumann-Platzes und der angrenzenden Straßen beteiligt zu haben“, hieß es in einer Mitteilung der Anklagebehörde.

Man gehe davon aus, dass der Angeschuldigte tödliche Verletzungen der Polizisten zumindest billigend in Kauf genommen habe. Weitere Ermittlungen gegen ihn hatten das Führen verbotener Gegenstände, Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, Landfriedensbruch, tätlichen Angriff auf und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, die Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel sowie 18fache gefährliche Körperverletzung zum Gegenstand.

Der „Tag X“ vor über einem Jahr

Rund um den sogenannten „Tag X“ Anfang Juni 2023 war es im Leipziger Süden zu Demonstrationen und auch Angriffen auf Polizeibeamte gekommen. Hintergrund war die gerichtliche Verurteilung der Leipziger Studentin Lina E. und weiterer Personen, die für teils brutale Übergriffe auf politisch weit rechts verortete Menschen verantwortlich gemacht wurden.

Nach den Vorfällen setzte die Polizei in der Nacht vom 3. zum 4. Juni 2023 über 1.300 Betroffene, darunter viele Minderjährige, in einem Polizeikessel auf dem Alexis-Schumann-Platz fest, der erst nach elf Stunden endgültig aufgelöst war. Dies wurde offiziell mit der Dingfestmachung von Straftätern begründet, doch vielfach als unverhältnismäßige Maßnahme und Machtdemonstration des Staates kritisiert.

Landgericht verneint dringenden Tatverdacht: Was wird aus der Anklage?

Warum nun die Aufhebung des Haftbefehls? Wie Landgerichts-Sprecher Johann Jagenlauf am Dienstag gegenüber der LZ erklärte, habe der Haftbefehl dem Oberlandesgericht (OLG) vorgelegt werden sollen. Hintergrund ist, dass bei Untersuchungsgefangenen eigentlich innerhalb von sechs Monaten der Prozess beginnen muss, eine Überschreitung der Frist bei triftigen Gründen muss das OLG absegnen.

Bei der Vorprüfung hierzu habe die zuständige Kammer des Landgerichts Bedenken gehabt, inwieweit die Videoaufzeichnungen der fraglichen Würfe eine klare Identifikation des Verdächtigen hergeben.

Die eindeutige Zuordnung der vermummten Person zu dem 25-jährigen Leipziger ist demnach aus verschiedenen Gründen offenbar ein entscheidender Knackpunkt, der für das Landgericht nicht ausreicht, einen „dringenden Tatverdacht“ zu begründen. Doch nur der rechtfertigt nach rechtsstaatlicher Praxis die Anordnung einer Untersuchungshaft. Ob sich dagegen ein „hinreichender Tatverdacht“ erhärten lässt, wie für die Anklageerhebung und einen Prozess notwendig, ist bislang nicht entschieden.

Die Staatsanwaltschaft wollte die Entscheidung des Leipziger Landgerichts auf LZ-Anfrage am Dienstag nicht kommentieren. Sie kann aber dagegen Beschwerde einlegen, diese Option werde derzeit geprüft, teilte Behördenvertreterin Anna Gürtler mit.

Soligruppe begrüßt Entscheidung

Ausdrücklich begrüßt wurde der Beschluss durch eine Soligruppe: „Wir und zahlreiche andere sind voller Freude darüber, unseren Gefährten, Freund und Mitstreiter endlich wieder außerhalb der Knast- und Gerichtsmauern zu sehen, seine Stimme nicht nur am Telefon zu hören oder zeitversetzt seine Gedanken und Überlegungen in Briefen lesen zu können“, so der Wortlauf einer Mitteilung auf der alternativen Medienplattform „Indymedia.“

Die Gruppe hatte bereits letzte Woche scharfe Kritik an Staatsanwaltschaft und Justiz geübt. Durch den überzogenen Vorwurf eines Mordversuchs sollten legitime Proteste verunglimpft werden, die Anklagebehörde biete „einiges an Fantasie und Unverfrorenheit“ auf, hieß es.

Mit der Freilassung des Verdächtigen aus der Haft ist zumindest zeitnah, sollte es zu einem Gerichtsprozess kommen, nicht mit dessen Eröffnung zu rechnen. Denn die hiesigen Strafgerichte sind oft bis zum Anschlag mit Verfahren ausgelastet, bei denen Verdächtige noch ohne Urteil in U-Haft sitzen und daher einen Anspruch darauf haben, dass ihr Tatvorwurf beschleunigt verhandelt wird.

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