Die Anklage geht von Totschlag aus, die Verteidigung will Freispruch wegen Notwehr: Nach der tödlichen Messerattacke auf einen 54-Jährigen am 8. September in der Richard-Lehmann-Straße wurde der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter vor dem Landgericht am Dienstag fortgesetzt. Der umfassenden Einlassung des Angeklagten (60) nachfolgend, schilderten nun mehrere Nachbarn und Anwohner ihre Wahrnehmungen.
„Plötzlich haben wir gehört, dass es zu einem Streit zwischen mehreren Personen gekommen ist“, beschrieb Sarah B. (Name geändert), wie sie sich an den 8. September 2023 erinnert. Sie und ihr Mann waren mit dem Kind gerade beim Kaffeetrinken im Hof gegenüber, der durch einen Zaun abgetrennt ist, als sie die zwei streitenden Männer am Hauseingang wahrnahm.
Laut Staatsanwaltschaft soll der jetzt wegen Totschlags angeklagte Michael O. (60) seinen langjährigen Gegenspieler Martin S. (54) mit einem Obstmesser in die Brust gestochen und tödlich verletzt haben. Das Opfer verstarb noch vor Ort.
Eifersucht und „Dreiercombo“
Für Sarah B. per se nicht außergewöhnlich: „Es gab ein paar Streits, habe ich immer mal gehört.“ Nach ihrer Mutmaßung, die sie gegenüber der Polizei äußerte, sei es letztlich um Eifersucht wegen einer Frau gegangen: Frau J., die zuletzt im Erdgeschoss des Wohnhauses lebte, habe eine Verbindung zum Getöteten unterhalten, was wiederum den Argwohn und Neid von Michael O. erweckt haben soll.
Diese „Dreiercombo“, wie die Zeugin es nannte, war offenbar kein Geheimnis. So habe sich auch der Streit vor dem Haus um die Frage gedreht, wer den Schlüssel zur Wohnung von Frau J. bekommen solle, die zum Zeitpunkt des Vorfalls bereits schwer an Krebs erkrankt war und inzwischen nicht mehr lebt.
Sie habe „Aua, aua“-Rufe wahrgenommen, die sich für sie aber nicht wie ein schlimmer Schmerzensschrei angehört hätten, so Sarah B. weiter. Das bestätigte auch ihr Ehemann (41) im Zeugenstand: Er habe dem Zwist zunächst keine Bedeutung beigemessen, zumal es nicht der erste seiner Art war. Umso frappierender war der wirkliche Ausgang der Konfrontation, an deren Ende ein Mensch tot war: „Ich war entsprechend überrascht, als dann das Zelt aufgebaut wurde“, sagte der Zeuge.
Für den Angeklagten war es ein „Selbstverteidigungsakt“
Was aber passierte am Tattag kurz vor 16 Uhr wirklich? In seiner umfassenden Aussage beim Prozessauftakt hatte Michael O. geschildert, dass er seinen Widersacher nie habe verletzen oder gar töten wollen. Doch sei er von dem körperlich überlegenen Mann, nicht zum ersten Mal, wieder mal angegangen und massiv bedroht worden, als er gerade vom Einkaufen zu Frau J. wollte.
Als er sich mit einem Apfelstrudel in der linken und einem Obstmesser in der rechten Hand gegen einen Angriff seines Gegenübers gewehrt habe, sei es zu dem Stich gekommen. Ob Michael O. die Tatwaffe aus der Hosentasche fiel oder er sie erst aus der Wohnung holte, dazu gibt es unterschiedliche Angaben.
„Herr O. sagte mir, dieser ganze Vorfall ist ein Selbstverteidigungsakt“, bestätigte auch der 54-jährige Matthias T. (Name geändert), ein Bekannter des Angeklagten, der ihn nach seiner Inhaftierung in der JVA besuchte. Michael O. beschrieb er als Mensch, der öfter dem Alkohol zusprach, juristisch sehr versiert und hilfsbereit sei. Auch Nachbarin Simone Z. (43, Name geändert) meinte: „Eigentlich war er immer ganz nett.“ Sie habe gesehen, wie er sich um die schwerstkranke Frau J. kümmerte, auch habe er früher manchmal mit deren Hund, als dieser noch lebte, im Hof gesessen.
Als Polizei und Rettungskräfte bereits vor Ort waren, traf sie den Angeklagten am 8. September 2023 angetrunken an einem nahen Haltestellenhäuschen, erkundigte sich besorgt, was passiert war. „Er lachte nur und sagte, er schaue sich das Ganze aus der Entfernung an.“
„Die machen mit dem Messer rum und prügeln sich“
Claudia P. (55, Name geändert), eine weitere Nachbarin, hörte den Streit der Männer durch das offene Fenster und wählte daraufhin die 110, noch ehe es zum tödlichen Stich kam: „Die machen mit dem Messer rum und prügeln sich“, heißt es im aufgezeichneten Notruf, der am Dienstag im Gerichtssaal abgespielt wurde.
Sie kannte die an Krebs verstorbene Frau J., sei mit ihr „solidarisch“ gewesen und begleitete die schwerkranke Nachbarin durch ihre finale Lebenszeit, erklärte die Zeugin. Nach dem Notruf bei der Polizei habe sie seltsame Geräusche und ein Röcheln wahrgenommen.
Michael O. soll nach ihrer Aussage gegenüber Frau J. keineswegs nur kümmernd, sondern manchmal physisch und auch emotional gewalttätig gewesen sein: So habe er einmal sogar die Urne mit der Asche ihres verstorbenen Hundes Bruno an sich genommen, um sich so Zugang zur Wohnung zu erpressen, sagte Claudia P. aus. Schon in ihrer polizeilichen Vernehmung hatte sie bekräftigt, dass der Dauerzoff der zwei Männer auch aus ihrer Sicht eine „Eifersuchtsgeschichte“ war.
Der Prozess wird fortgesetzt.
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