Mehr als ein Jahr nach der angeklagten Entführung eines jungen Mannes aus seiner Wohnung in Leipzig-Probstheida stehen seit einer Woche fünf mutmaßliche Täter vor Gericht, die sich vorerst schweigend verteidigen. Zur Fortsetzung des Prozesses am Donnerstag vor dem Landgericht kamen unter anderem zwei Augenzeugen des Kidnappings zu Wort. Einem von ihnen steckte die Angst auch Tage später noch in den Knochen.
Torsten P. (Name geändert) war plötzlich mitten im Geschehen, und dies ganz ungewollt. Der 45-jährige Bewohner der „Langen Lene“, des längsten Wohnkomplexes von Leipzig in der Lene-Voigt-Straße, wollte am Abend des 10. Januar 2023 gerade das Haus betreten, da passierte es auch schon: „Ich kam gerade nach Hause. In dem Augenblick ging der Fahrstuhl auf und eine Gruppe von Männern kam heraus“, so berichtete P. am Donnerstag im Zeugenstand. „Inmitten dieser Traube von Männern war ein Farbiger, der hat geschrien: ‚Polizei!‘“
Zudem sei ein Schuss in die Luft abgegeben und von einem der als „arabisch“ beschriebenen Männer beschwichtigt worden, alles sei in Ordnung, ehe die Truppe mit dem Afrikaner im Audi Richtung Süden eilig weggefahren sei.
Geldvermehrung soll sich als fauler Betrug herausgestellt haben
Aus Sicht der Leipziger Staatsanwaltschaft war der Hintergrund der Aktion eine brutale und geplante Entführung aus Rache: Weil der heute 30-jährige Kameruner Lionel N. der syrischen Familie M. aus Magdeburg glaubhaft vorgegaukelt habe, Banknoten durch chemische Prozeduren vervielfältigen zu können, hätten ihm die M.s 15.000 Euro an Bargeld ausgehändigt. Ermittler warnen immer wieder vor der als „Wash-Wash“ bekannten Betrugsmasche.
Die soll auch im beschriebenen Fall vorgelegen haben: Als der wundersame Geldvermehrer nicht zur vereinbarten Übergabe seiner „Arbeitsleistung“ am 10. Januar 2023 in einem Magdeburger Hotel kam, seien Mitglieder der Familie am selben Abend kurzerhand an Lionel N.s Leipziger Adresse in Probstheida aufgekreuzt, hätten den damals 29-Jährigen nach Magdeburg verschleppt, ihn misshandelt und vergeblich 15.000 Euro Lösegeld von dessen Onkel in Frankreich zu erpressen versucht.
Bei der Rückkehr nach Leipzig schlug dann am Morgen des 12. Januar 2023 die Polizei zu, die den Wohnkomplex nach Notrufen von Anwohnern und eingeleiteter Fahndung observierte, Lionel N. wurde verletzt befreit. Unter anderem wegen Geiselnahme, Körperverletzung und erpresserischen Menschenraubs sitzen seit vergangener Woche der syrische Familienvater Jamal M. (48) und zwei Söhne von ihm (20, 22) auf der Anklagebank, außerdem zwei mutmaßliche Helfer (26, 34).
Zeuge hatte Angst vor Drohungen
Lionel N. soll den Ermittlungen nach nicht mitgekriegt haben, dass seine späteren Kidnapper den Ausweis mit seiner Leipziger Wohnanschrift zur Sicherheit fotografiert hatten. Die schräge Story, die, wenn sie der Wahrheit entspricht, vielfach Kopfschütteln oder ungläubiges Lachen auslösen dürfte, war allerdings nicht nur für den Geschädigten selbst alles andere als witzig: „Es war ein unangenehmes Gefühl“, so Augenzeuge Torsten P., auch Tage später habe ihn der Vorfall noch beschäftigt. Nicht zuletzt habe er mächtig Angst gehabt, die Täter könnten ihn persönlich bedrohen und unter Druck setzen.
Sein Antrag auf Datenschwärzung in den Akten sei jedoch von der Staatsanwaltschaft abgelehnt worden, diese habe keine Gefährdung gesehen.
„Plötzlich hörte ich Schreie“
Auch Peter T. (Name geändert) wurde aus einiger Entfernung zufällig Zeuge des Geschehens: „Plötzlich hörte ich Schreie. Ich habe die Situation überhaupt nicht einschätzen können“, sagte der 67-jährige Rentner am Donnerstag. Seine Nachfrage, was los sei, habe man mit der Aufforderung quittiert, er solle „sich verziehen“. Eine Person, die aussah, als blutete sie aus der Nase, sei in einen Audi Q7 gezerrt worden. Per Notruf wurde die Polizei alarmiert, die kurz darauf am Tatort eintraf und ihre Ermittlungen aufnahm.
Von den Angeklagten hat sich bisher keiner zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft geäußert. Ob und wann der Geschädigte Lionel N. selbst zur Aussage geladen wird, ist aktuell nicht bekannt. Bei einigen Details, etwa zur Bewaffnung der Geiseltäter und ihrer möglichen Maskierung, weichen die Erinnerungen der gehörten Zeugen von Kenntnissen der Ermittler ab.
Die 3. Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Bernd Gicklhorn hat für den Mammut-Prozess momentan noch zwölf Verhandlungstermine bis 27. Juni auf ihrem Kalender.
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