Jeden Tag werden in unserem Land Menschen aufgrund von Straftaten durch Gerichte verurteilt. Das Meiste läuft unter dem Radar von Medien und Öffentlichkeit, nur einige Kriminalfälle erlangen lokal und regional größere Aufmerksamkeit, wenige noch mehr – etwa der „Kinderzimmerdealer“ oder der Fall Gil Ofarim. Wir fassen Ihnen hier ein paar ausgewählte Leipziger Urteile des ausgehenden Jahres 2023 zusammen.
Blockade der Letzten Generation: Amtsgericht spricht Klimaaktivisten frei
Es ist der erste Prozess dieser Art in Leipzig: Ab Ende Juni müssen sich fünf Klimaaktivistinnen und -aktivisten der „Letzten Generation“ im Alter zwischen 22 und 31 vor dem Leipziger Amtsgericht verantworten. Ihnen wird Nötigung im Rahmen einer Straßenblockade vorgeworfen, die den Verkehr auf dem Leipziger Ring ein Jahr zuvor kurzzeitig gestoppt hatte. Am Sachverhalt selbst gibt es kaum Zweifel, die Angeklagten rechtfertigen ihr Handeln mit Verweis auf die Klimakrise, gegen die zu wenig unternommen werde.
Die Stimmung im Gerichtssaal ist oft gelöst, beinahe heiter – wohl nicht zuletzt, weil keiner der fünf jungen Männer und Frauen das Bild eines abgebrühten Verbrechers erfüllt. Dies erklärt auch die Staatsanwältin. Einen Schuldspruch findet sie dennoch gerechtfertigt.
Die Amtsrichterin entscheidet anders: In Abwägung aller Umstände hätte die Gruppe nicht verwerflich gehandelt, sagt sie und verkündet am 4. Juli allen den Freispruch. Der Protestinhalt habe bei der Urteilsfindung keine Rolle gespielt, da die persönliche Meinung von Richterinnen und Richtern hier nicht zählen dürfe, betont sie.
Mehrere der eben noch Angeklagten nehmen nach Ende der Gerichtsverhandlung sofort an einer neuerlichen Straßenblockade auf der Kurt-Eisner-Straße teil, schließlich dulde die Klimakrise keinen Aufschub: „Ein Freispruch, so toll er ist, ist nur ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Aktivistin Pia O. (27).
Die Staatsanwaltschaft legt gegen das Urteil Berufung ein.
Verfolgungsjagd und Schüsse: Autoraser muss in Haft
Eine halsbrecherische Verfolgungsjagd im Leipziger Süden endete im Januar 2023 mit über 50.000 Euro Sachschaden und Schüssen der Polizei, der Autofahrer wurde schwer verletzt und musste in eine Klinik. Gut acht Monate danach schickt das Amtsgericht den 38-jährigen Thomas H. für zwei Jahre und vier Monate hinter Gitter, unter anderem wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung, einem Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, Urkundenfälschung und Fahrens ohne Fahrerlaubnis.
Im Prozess räumt der polizeibekannte Mann aus der Nähe von Leipzig ein, unter Drogeneinfluss und ohne Fahrerlaubnis in einem nicht zugelassenen Mercedes unterwegs gewesen zu sein, er habe sich in Lößnig einer drohenden Verkehrskontrolle entziehen wollen.
Zugleich erheben der Angeklagte und sein Verteidiger massive Vorwürfe gegen die Polizei: Die Einsatzkräfte hätten unprofessionell und nicht verhältnismäßig gehandelt, als Thomas H. an der Auffahrt zur B2 gefasst wurde. Dort war sein Wagen nach der Raserei eingekeilt worden und zum Stehen gekommen. Thomas H. soll dann mit einer Machete auf die Polizeibeamten losgegangen sein.
Das Schöffengericht ordnet neben der Haftstrafe auch die Unterbringung von Thomas H. in einer Entziehungsanstalt an und verhängt zwei Jahre Führerscheinsperre.
Rechtsextremist Sven Liebich soll ins Gefängnis
Sven Liebich aus Halle/Saale gilt seit Jahren als umtriebiger Protagonist der rechten Szene, Vorwürfe von Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, Beleidigungen und üble Hetztiraden begleiten den Dauer-Provokateur schon lange. Der Verfassungsschutz von Sachsen-Anhalt widmet dem heute 53-Jährigen ein eigenes Kapitel im Bericht für 2022. Die Strafverfolgungsbehörden ließen ihn dann aber oft glimpflich davonkommen, sofern es überhaupt zu einem Prozess kam.
Das Leipziger Amtsgericht drückt jedoch kein Auge zu: Im September wird Sven Liebich zu sieben Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Gemeinsam mit drei Mitangeklagten muss er sich verantworten, weil die Gruppe einen Fotografen bei einer völlig eskalierten Querdenker-Demo auf dem Leipziger Ring im November 2020 brutal attackiert haben soll. Liebich und seine damalige Lebensgefährtin, die mit auf der Anklagebank sitzt, erklären den Vorfall zum Prozessbeginn so: Man habe den Fotografen nur festhalten und der Polizei übergeben wollen, da er Liebich kurz zuvor körperlich angegriffen habe.
Zwar zeigt eine Videosequenz, die als zentrales Beweismittel dient, in der Tat einen Schlag des späteren Opfers gegen Liebich, wegen dem ein separates Strafverfahren läuft. Dennoch sei der Geschädigte im Moment des brutalen Gruppenangriffs keine Gefahr gewesen und die angebliche Notwehr eine Schutzbehauptung, befindet die Amtsrichterin. Liebich soll nicht zuletzt wegen der Gefahr weiterer Straftaten in Haft, die drei Mitangeklagten erhalten Bewährung.
Familientrio aus Colditz kommt mit milden Strafen davon
Jahrelang sollen sie für Angst und Schrecken in Colditz gesorgt haben: Ende November spricht das Landgericht Haftstrafen von je drei bzw. vier Jahren gegen Ralf N. (67) sowie seine Söhne Andreas (38) und Uwe (35) aus – ein mildes Urteil, gemessen an den Tatvorwürfen. Im Frühjahr hatten Zoll und Polizei bei einer Großrazzia vor Ort Crystal Meth im Wert von etwa 500.000 Euro konfisziert, dazu eine Cannabis-Plantage mit etwa 2.600 Pflanzen, zwei teure Luxuswagen, Waffen und 32.000 Euro Bargeld.
Familienvater Ralf N. gibt sich zum Prozessauftakt unbedarft und harmlos, nimmt die Verantwortung weitgehend auf seine Schultern, während die Söhne ihn belasten. Laut Recherchen des MDR sollen die N.s einem Netzwerk angehört haben, in dem sich rechtsradikales Denken mit Gewalt- und Drogenkriminalität verband. Über Jahre hinweg seien politische Gegner, Polizeibeamte und alle, die sich dem Treiben der Familie in den Weg stellten, terrorisiert, eingeschüchtert und brutal angegriffen worden.
Die Razzia, die zunächst ein erfolgreicher Schlag des Rechtsstaats schien, erweist sich eher als Bumerang: Ermittlungsfehler, fehlerhafte Durchsuchungsbeschlüsse, mangelnde Rechtsgrundlagen und Aktenschlamperei machten „sprachlos“, muss sogar der Vorsitzende Richter eingestehen. Die drei Angeklagten kommen nach dem Urteil zunächst auf freien Fuß, sollen ihre Reststrafe später absitzen.
Ofarims Lügengespinst: Der Skandal, der keiner war
Mit einem überraschenden Geständnis endet am 28. November nach drei Wochen der von gewaltigem Medienandrang begleitete Prozess gegen Gil Ofarim am Landgericht: Der jüdische Sänger und Schauspieler räumt in einem kargen Statement kleinlaut ein, dass er sich den Antisemitismus-Vorwurf gegen einen Manager des Hotels Westin ausgedacht hat, bittet den Mann um Entschuldigung. Dieser nimmt sie an.
Damit endet ein Lügengespinst, das Ofarim mehr als zwei Jahre öffentlich aufrechterhalten hatte. Anfang Oktober 2021 hatte der heute 41-Jährige in einem Instagram-Video behauptet, ihm sei das Check-in im Hotel verwehrt worden, solange er seine Kette mit Davidstern trage. Einer Welle der Empörung folgten unter anderem durch Aufnahmen von Überwachungskameras ernsthafte Zweifel und schließlich die Anklage vor Gericht.
Das Verfahren gegen Ofarim unter anderem wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung wird unter Auflagen eingestellt: Der Münchner soll insgesamt 10.000 Euro an die Israelitische Gemeinde in Leipzig und den Trägerverein zur Wannsee-Konferenz zahlen, dazu kommen Verfahrenskosten und ein Schmerzensgeld an den Geschädigten, über dessen Höhe Stillschweigen vereinbart wird.
Mit der Einstellung des Verfahrens und dem Geständnis sei der falsch beschuldigte Hotelmitarbeiter wirksamer rehabilitiert, als es durch ein Urteil hätte erreicht werden können, sagt der Vorsitzende Richter zum Abschluss. Und: Der Kampf gegen realen Antisemitismus bleibe eine wichtige Aufgabe.
Hier finden Sie Teil 1 des Jahresrückblicks auf Leipziger Gerichtsurteile.
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