Spätestens der vergangene Samstag, oder auch „Tag X“, hat die Diskussion um das Gewaltmonopol der Polizei wieder angefacht. Hunderte Personen, darunter Minderjährige und Passant*innen, wurden teils übermäßig gewaltsam in einen Kessel gedrängt. Videos unter dem Hashtag #Polizeigewalt kursierten auf Twitter und anderen Netzwerken. Fast 12 Stunden wurden einige der Personen festgehalten – ohne Zugang zu Toiletten; Wasser und Nahrung wurden in kleinen Mengen erst nach Stunden in den Kessel gelassen. Auch die anschließenden Durchsuchungen seien laut Betroffenen unverhältnismäßig grob und teils traumatisierend gewesen.
Dass übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung kein Einzelfall ist, zeigt das unabhängige Forschungsprojekt der Goethe-Universität in Frankfurt am Main namens „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol), dessen Ergebnisse Mitte Mai veröffentlicht wurden.
Die KviAPol ist die bislang größte Untersuchung zur Polizeigewalt in Deutschland. Die Forschenden Laila Abdul-Rahman, Hannah Espin Grau, Luise Klaus und Tobias Singelnstein haben dafür mehr als 3.300 Betroffene befragt und mehr als 60 qualitative Interviews mit Vertreter*innen von Polizei, Rechtswesen und Opferberatungsstellen geführt.
Nur zwei Prozent werden angeklagt
Das Statistische Bundesamt gibt für das Jahr 2021 insgesamt 5.252 erledigte Ermittlungsverfahren gegen Polizeibedienstete an. 2.790 davon wegen rechtswidriger Gewaltausübung. Doch: Nur zwei Prozent der Fälle kommen vor Gericht, weniger als 1 Prozent enden mit einer Verurteilung, so KviAPol-Autor und Kriminologe Tobias Singelnstein. So wurden 2021 61 Verfahren gegen Polizeibedienstete an Amtsgerichten verhandelt.
Verantwortlich für die geringe Aufklärungsquote sind laut Singelnstein vor allem die Staatsanwaltschaften, die ihr Verhältnis zur Polizei nicht belasten wollten. Das gehe aus den qualitativen Interviews hervor. Diese zeigten außerdem, dass es in den Staatsanwaltschaften die Grundannahme gibt, dass Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt in der Regel unberechtigt seien. Das führe dazu, dass man eher selten Anklage erhebe.
Wenig Anzeigen und hohe Dunkelziffer
Doch die KviAPol-Studie zeigt, dass die 2.790 Ermittlungsverfahren scheinbar nur die Spitze des Eisbergs sind. „Nach unseren bisherigen Befunden kann man davon ausgehen, dass das Dunkelfeld mehr als fünfmal so groß ist wie das Hellfeld, das wir in der Statistik sehen“, so Singelnstein gegenüber Kontraste und dem Spiegel.
Hochrechnungen des Forschungsprojektes ergeben, dass es jährlich mindestens 12.000 mutmaßliche Fälle von Polizeigewalt gibt. Die Befragten berichteten in 19 Prozent von schweren Verletzungen wie Knochenbrüchen, Verletzungen an Gelenken und Sinnesorganen.
Trotzdem gaben nur 8,4 Prozent der Befragten an, dass sie die verantwortlichen Beamt*innen angezeigt haben. Ein Großteil der Betroffenen hat wegen schlechter Erfolgsaussichten den eigenen Fall nicht zur Anzeige gebracht.
Dabei spielt unter anderem die oben genannte enge Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaften und Polizei eine Rolle. Knapp 42 Prozent konnten die Beamt*innen nicht identifizieren, 55 Prozent hatten Angst vor einer Gegenanzeige.
Betroffene kommen selten zu ihrem Recht
„Das Recht konzipiert polizeiliche Gewalt als Ausnahmebefugnis, die nur in sehr engen Grenzen erlaubt ist“, so die Forschenden des KviAPol-Projektes in ihrem Fazit. Es sei die Aufgabe der Polizei, Situationen verbindlich zu klären und bestimmte demokratische Normen, Interessen und Deutungsweisen durchzusetzen. Polizeiliche Gewaltausübung sei eine Praxis, um diese Dominanz in bestimmten Situationen herzustellen.
Die Forschenden kommen zu dem Schluss, dass das Gewaltmonopol und die Definitionsmacht der Polizei nicht nur in einigen Situationen selbst ausgenutzt wird, sondern auch danach für Ungleichheit sorgt: „Für Betroffene übermäßiger polizeilicher Gewaltanwendungen zum Beispiel entsteht so eine Situation, in der sie ohne Mechanismen, die der polizeilichen Dominanz entgegenwirken, in der Praxis kaum zu ihrem Recht kommen können.“
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