Zum inzwischen fรผnften Mal nahm am Mittwoch, dem 21. September 2022 Kronzeuge Johannes D. im groรŸen Saal der AuรŸenstelle des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden Platz. Der Aussteiger aus der linken Szene stellte sich erneut den Fragen des Staatsschutzsenats, sprach รผber Strukturen und Akteure der angenommenen Gruppierung um Studentin Lina E., die mit drei Mรคnnern unter dem Vorwurf schwerer Gewalttaten gegen rechtsgerichtete Personen angeklagt ist.

Es herrscht angespannte Stille im gut besetzten Zuschauerraum des Oberlandesgerichts Dresden, der hinter einer Glaswand liegt. Dann geht alles ganz schnell: Eine Seitentรผr รถffnet sich und mehrere Polizisten in Zivil mit Westen und Armbinden betreten den Saal, fixieren die Umgebung. Sekunden spรคter wird Johannes D. hereingebracht. Insgesamt acht Beamte bewachen den 30-Jรคhrigen, der ehemals Teil der linksradikalen Szene war und nun, wie in diesem Jahr bekannt wurde, mit den Ermittlungsbehรถrden kooperiert.

Vorangegangen war ein Outing im Internet mit Foto und Klarnamen vor gut einem Jahr, in dem der junge Mann, dem Text nach von einer Ex-Partnerin, mit Vorwรผrfen von Missbrauch und Vergewaltigung in Zusammenhang gebracht worden war. Jetzt befindet sich Johannes D. im Zeugenschutzprogramm, seine Gefรคhrdung wird als hoch eingestuft.

Einladung zu Spontandemo

Johannes D. spricht langsam und bedรคchtig, nimmt sich auch Zeit zum Nachdenken, als der Senat ihn mit immer neuen Detailfragen ins Visier nimmt. Zunรคchst geht es um weitere Einzelheiten zu ihm, seiner Vergangenheit, seinem beruflichen Werdegang, frรผheren Wohnorten, gemeinsamen Feiern und Trainings in der Leipziger GieรŸerstraรŸe mit anderen Szene-Mitgliedern.

Dazu gehรถrt auch Johann G., Freund der Hauptangeklagten Lina E., der seit Sommer 2020 untergetaucht ist und per Haftbefehl gesucht wird.

Johann G. habe ihn schon im Juni 2015 im Zuge einer Spontandemo nach Leipzig eingeladen โ€“ Anlass war seinerzeit der G7-Gipfel auf Schloss Elmau. โ€žWir wussten, dass es an dem Tag knallen sollteโ€œ, gibt Johannes D. freimรผtig zu. Allerdings habe er die eigenen Plรคne damals kurzfristig geรคndert, da seine Oma im Sterben lag, erinnert sich der Kronzeuge weiter.

Einige Male verweigert er eine konkrete Auskunft unter Berufung darauf, dass er sich gemรครŸ Strafprozessordnung nicht selbst belasten muss โ€“ etwa bei der Frage, ob er bei Ausschreitungen zu Silvester in Leipzig an Straftaten beteiligt war.

Genaues weiรŸ er nicht

Zu vorgehaltenen Anklagepunkten, wie einem Angriff auf den Leipziger Ex-NPD-Stadtrat Enrico B. im Oktober 2018 in Gohlis und auf den Neonazi Cedric S. bei Wurzen vier Wochen spรคter wisse er nichts โ€“ er sei nicht beteiligt gewesen und habe auch keine Informationen dazu erhalten. Gleiches gilt fรผr die brutale Attacke auf einen Kanalarbeiter in Leipzig-Connewitz vom Januar 2019. Als die Verdรคchtige Lina E. im Dezember 2019 beim Diebstahl von Hammern in einem Obi-Markt ertappt wurde, sei dies dagegen intern thematisiert und ausgewertet worden.

Von einem geplanten รœberfall auf den rechtsgesinnten Jura-Studenten Brian E. im Jahr 2020, der durch die Polizei offenbar vereitelt wurde, will D. erst im Nachgang erfahren haben.

โ€žEs war das Ziel, Nazis zu schรคdigenโ€œ

Doch wie war die mutmaรŸliche Gruppierung, die sich รœberfรคlle auf Neonazis zum Ziel gemacht haben soll, in ihrer Struktur eigentlich aufgebaut? Johannes D. spricht von drei verschiedenen Kreisen, die es aus seiner Sicht gegeben habe. Kreis 1 habe sich um Johann G. und Lina E. in Leipzig geschart, hierzu soll unter anderem auch der nun mitangeklagte Lennart A. gehรถren.

Kreis 2, dem sich Johannes D. selbst zurechnet, habe aus Leuten auรŸerhalb von Leipzig bestanden, wรคhrend Kreis 3 vor allem die โ€žDazugeholtenโ€œ umfasse, die fรผr militante Aktionen zur Erhรถhung der Schlagkraft angefordert worden seien.

Johannes D. wiegelt immer wieder ab, betont seine subjektive Sicht und dass die Gruppe kein statisches Gebilde mit starrer Rangordnung war. Aber: โ€žEs war schon das Ziel, geplant Nazis anzugreifen und zu schรคdigen.โ€œ Oft habe man zusammengesessen, auch politisch diskutiert. Die Gegnerschaft zu Kapitalismus, Faschismus, Rassismus und Neonazis habe dabei das einigende Band gebildet โ€“ obgleich in Detailfragen durchaus unterschiedliche Meinungen vorherrschten.

Doch hรคtten sich alle in der Gruppe mehr als nur oberflรคchlich fรผr die Welt interessiert. Manche reisten demnach auch mal nach Griechenland, um sich etwa รผber Flรผchtlingscamps zu informieren. Um schlichte Krawall-Lust jedenfalls sei es niemals gegangen.

โ€žIst jetzt dein Hamster gestorben?โ€œ

Dabei hรคtten Johann G. und Lina E. โ€žden Hut aufgehabtโ€œ, wie Johannes D. bereits gegenรผber der Polizei formuliert hatte. Ersterer habe neben der propagandistischen Vermarktung, etwa von gedrehten Videos, auch immer wieder fรผr eine Teilnahme an geplanten Aktionen angefragt.

Mit einer Absage habe er nur schwer umgehen kรถnnen: โ€žIst jetzt dein Hamster gestorben oder warum kannst du nicht?โ€œ, konterte Johann G. demnach einmal ungehalten. รœberhaupt sei Johann G. impulsiver und etwas schusselig gewesen โ€“ ganz anders als Lina E., die nach Johannes D.s Erinnerung mit Ruhe und Umsicht handelte.

โ€žIch hatte mit ihm ein gutes Verhรคltnis und wir haben uns, denke ich, auch sehr gemochtโ€œ, beschreibt der Kronzeuge sein Verhรคltnis zum untergetauchten Szenefreund. Andere jedoch seien mit Johann G. weniger gut zurechtgekommen, warfen ihm Grenzรผberschreitungen und eine manipulative Art vor. Vorwรผrfe, wie sie interessanterweise in den sogenannten โ€žOutcallsโ€œ auch Johannes D. gemacht wurden.

Nebenklรคger Enrico B. wieder auf freiem FuรŸ

Kurz nach 17 Uhr unterbrach das Gericht die Befragung des Zeugen, die am heutigen 22. September 2022 fortgesetzt wird. Einer konnte das Geschehen von der Nebenklage-Bank aus offenbar entspannt verfolgen: Der benannte Leipziger Ex-Stadtrat und frรผhere NPD-Kader Enrico B., der bis vor kurzem in Untersuchungshaft saรŸ, weil er an der Verbreitung von NS-Propaganda รผber den rechtsextremen Verlag โ€žDer Schelmโ€œ beteiligt gewesen sein soll.

Doch wie gestern zu erfahren war, wurde der Haftbefehl am 22. August unter Auflagen, zu denen nichts Nรคheres bekannt ist, auรŸer Vollzug gesetzt.

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