Im Juli 2021 gab es einen deutlich wahrnehmbaren Protest gegen den Ausbau des Frachtflughafens Leipzig / Halle. Rund 60 bis 70 Aktivist/-innen von „CancelLEJ“ hatten unangekündigt eine Zufahrt zum Frachtflughafengelände versperrt. Der Protest verlief friedlich, auch wenn die Polizei die Teilnehmer dann kurzfristig in Gewahrsam nahm. Aber postwendend sahen sich die Aktivisten einer Schadensklage der Flughafengesellschaft in Millionenhöhe ausgesetzt. Doch beziffern kann der Flughafen den Schaden bis heute nicht.

Vier Verfahren wurden nach diesem nächtlichen Protest angestrengt. Nur ein einziges ist bis heute abgeschlossen, nämlich eingestellt worden. Sachsens Polizei und Justiz tun sich unheimlich schwer, die Akten zu schließen. Im Gegenteil: Selbst das sächsische Versammlungsrecht wird weiter bemüht, um den Protest gegen den lauten Frachtflughafen zu kriminalisieren.

Das ergab eine Nachfrage des Landtagsabgeordneten der Linken, Marco Böhme.

Schaden nur aus Hörensagen?

In seiner Vorbemerkung umriss Böhme noch einmal, was damals geschah: „Vor einem Jahr, am 9. Juli 2021, besetzten ungefähr 50 Personen aus Protest gegen den Ausbau des Flughafens Halle/Leipzig eine der vier Ausfahrtstraßen des Kreisverkehrs der Hermann-Köhl-Straße in Schkeuditz. Die Besetzung wurde der Polizei als Eilkundgebung angezeigt und ohne Auflagen als Versammlung anerkannt. Nach der Beendigung der Versammlung wurden die teilnehmenden Personen jedoch teilweise bis zum 11. Juli 2022 in Gewahrsam genommen. In der Antwort auf die Kleine Anfrage ‚Medieninformationen der Polizei Sachsen zu #cancelLEJ, Ingewahrsamnahme der Versammlungsteilnehmer und Aussagen des Ministerpräsidenten‘ (7/7135) wurde die Ingewahrsamnahme mit der Notwendigkeit der Identitätsfeststellung zur Durchsetzung potenzieller zivilrechtlicher Ansprüche von DHL begründet.

Informationen von DHL, wonach es durch die Blockade zum Schaden in Millionenhöhe kam und LKWs mit Impfstoffen blockiert wurden, entpuppten sich als unwahr. Weiterhin bestand auch während des Protestes Zugang für LKWs zum Flughafen. Hinsichtlich der Vorwürfe der unwürdigen Bedingungen im Gewahrsam verwies die Staatsregierung auf eine damals noch laufende Prüfung durch Polizei und Staatsanwaltschaft.“

Doch weder im August 2021 – bei Böhmes erster Nachfrage – noch im Juli 2022 können der Flughafen Leipzig / Halle bzw. DHL eine irgendwie entstandene Schadenshöhe beziffern. Denn wo kein Schaden entstanden ist, ist das schlicht unmöglich.

Was die Staatsregierung freilich zu diesem vermeintlichen Schadensfall zu sagen hat, klingt über ein Jahr nach der Protestaktion geradezu fadenscheinig: „Die genaue Schadenshöhe ist Gegenstand der andauernden Ermittlungen, insofern kann dazu noch keine abschließende Aussage getroffen werden. Darüber hinaus ist eine weitergehende Beantwortung der Frage, welche LKW betroffen waren und welche weiteren Erkenntnisse zum Geschehensablauf vorliegen, im Hinblick auf die genannten Ermittlungsverfahren derzeit nicht möglich, da insoweit aufgrund der laufenden Ermittlungen in diesen Verfahren einer weitergehenden Beantwortung die Vorschrift des § 479 Absatz 1 StPO entgegensteht.

Nach dieser Vorschrift sind Auskünfte aus Akten zu versagen, wenn der Übermittlung Zwecke des Strafverfahrens entgegenstehen. Eine Beantwortung der vorgenannten Frage würde den Erfolg der Ermittlungen gefährden. Sofern Einzelheiten zu bisherigen Ermittlungserkenntnissen bekannt würden, könnte dies dazu führen, dass der Erfolg der weiteren notwendigen Ermittlungen vereitelt würde.“

Und das allein für eine Ermittlung einer möglichen Schadenshöhe? Die müsste doch selbst im letzten Geschäftsbericht von DHL zu finden sein. Aber nichts dergleichen wurde gemeldet. Und auch kein anderes betroffenes Frachtunternehmen hat sich zu Wort gemeldet und Schadenssummen genannt.

Sind die genannten Schadenshöhen gar nicht plausibel?

Das nächste Argument der Staatsregierung wirkt noch peinlicher: „Insbesondere birgt die Beantwortung der Frage die Gefahr, dass Aussagen von Beteiligten entwertet und die erforderliche Plausibilitätsprüfung erschwert wird, da nicht mehr festgestellt werden kann, ob Angaben aus eigener Erfahrung oder von Dritten gewonnene Erkenntnisse wiedergegeben werden.“

Das deutet ja geradezu darauf hin, dass es nirgendwo eine schriftlich fixierte Schadensmeldung gibt und stattdessen irgendwelche Leute befragt werden, ob sie sich eventuell an einen Schaden erinnern.

Ergebnis: Das Verfahren gegen die 54 Beschuldigten läuft bis heute, ohne dass es eine belastbare Schadenshöhe gibt. Und die Namen der 54 Beschuldigten hat die Polizei auch nur deshalb, weil die augenscheinlich falsche Behauptung eines DHL-Mitarbeiters über einen Millionenschaden am Abend des 9. Juli 2021 völlig ausreichte, dass die Polizei die Teilnehmer der Protestaktion in Gewahrsam nahm.

Eine Protestaktion, die vor Ort als Versammlung anerkannt wurde. Die Polizei hätte also überhaupt keinen Grund zur Personalienfeststellung gehabt. Dass die Angabe eines Millionenschadens von der Polizei dann auch noch ungeprüft in eine Polizeimeldung geschrieben wurde, musste die Polizei Leipzig schon am nächsten Tag zugeben.

Aber selbst das Versammlungsrecht wird weiter gegen Teilnehmer der Protestaktion in Anwendung gebracht.

Denn wegen der Paragrafen 14 und 27 des Sächsischen Versammlungsgesetzes wird weiterhin gegen eine Person ermittelt. Als wenn es der Polizei bis heute schlicht nicht möglich wäre, Verstöße gegen das Sächsische Versammlungsgesetz nachzuweisen. Etwas, was eigentlich in der „Tatnacht“ schon hätte geschehen müssen, denn immerhin wurde die Versammlung als solche von der Polizei anerkannt und ein Versammlungsleiter benannt.

Wenn sich ein Frachtkonzern genötigt fühlt

Lediglich im Fall zweier Sachbeschädigungen sind die Verfahren inzwischen abgeschlossen, obwohl auch da nicht klar ist, wie belastbar die Angaben der Polizei sind. In einem Fall waren sie es nämlich nicht. Dieses Verfahren wurde eingestellt.

Die Antwort der Staatsregierung dazu: „Das Ermittlungsverfahren mit der laufenden Nummer 3 ist abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft Leipzig hat mit Verfügung vom 15. November 2021 beim Amtsgericht Leipzig den Erlass eines Strafbefehls wegen des Tatvorwurfs der Sachbeschädigung beantragt. Gegen den durch das Amtsgericht Leipzig sodann erlassenen Strafbefehl wurde form- und fristgerecht Einspruch eingelegt. Das Verfahren ist noch gerichtsanhängig. Das Verfahren mit der laufenden Nummer4 ist mit Verfügung vom 14. Juli 2021 durch die Staatsanwaltschaft Leipzig nach § 170 Absatz 2 Strafprozessordnung (StPO) eingestellt worden.“

Bleibt noch der Vorwurf der Nötigung gegen die 54 Protestteilnehmer, der mit der schlicht nicht greifbaren Millionenschadenssumme begründet wurde.

Der entsprechende Paragraf definiert die Tat so: „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“

Von Gewalt war an dem Juliabend weit und breit nichts zu sehen, und von „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ auch nicht. Tatsächlich wurde hier ein ziviler Protest mit einer anerkannten Versammlung nachträglich kriminalisiert. Und nach über einem Jahr wird immer noch nach belastbaren Gründen gesucht, die ein Ermittlungsverfahren überhaupt begründen könnten.

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