Es gibt kaum zwei Verfahren, die deutlicher machen, wie in Sachsen mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn es um politisch motivierte Gewalttaten geht. Das eine ist der Prozess um Lina E. in Dresden, der aufgezogen wurde, als hätte man es hier mit einer zweiten RAF-Splittergruppe zu tun. Das andere sind die sich hinschleppenden Verfahren gegen die Beteiligten am Überfall auf Connewitz im Januar 2016.

Nur auf den ersten Blick hat man es mit verschiedenen Phänomenen zu tun – im ersten Fall um die Vermutung von konzertieren linken Angriffen auf diverse rechtsradikale Gruppen und Treffpunkte, bei denen die Anklage Lina E. quasi als Anführerin vermutet wird.Im anderen Fall um einen nachweislich rechtsextremen gewalttätigen Angriff auf den Leipziger Ortsteil Connewitz am 11. Januar 2016, an dem dem sich über 200 rechtsradikale Angreifer beteiligten.

Doch während gegen Lina E. und ihre Mitangeklagten verhandelt wird, als wäre es eine Terrorzelle, ziehen sich die Verhandlungen gegen die Teilnehmer des Angriffs auf Connewitz, weil gegen jeden Einzelnen extra verhandelt wird, während die Tatsache, dass der Angriff organisiert war, von Anfang an keine Rolle spielt.

Als wollte die Staatsanwaltschaft überhaupt nicht wissen, wer als Anstifter dahintersteckt und über welche Mobilisierungsmöglichkeiten Rechtsradikale in Sachsen verfügen.

Die Landtagsabgeordnete der Linken Juliane Nagel meint zwar, die Justiz sei es, die hier das Eigentliche nicht sehen wollte. Aber oft spielen schon die Ermittlungen der Polizei die entscheidende Rolle dabei, in welcher Form dann Anklage erhoben wird.

Gehen die Ermittler – wie im Fall Lina E. – davon aus, dass man es mit einer organisierten Gruppe zu tun hat, dauert es keine sechs Jahre, bis ein regelrechter Staatsprozess gegen diese Gruppe aufgezogen wird und mit aller Akribie versucht wird, der „Rädelsführerin“ die zentrale Rolle nachzuweisen.

Geht aber die Polizei – wie im Fall Connewitz – einfach davon aus, dass sich hier über 200 rechtsradikale Gewalttäter einfach mal spontan darauf verständigt haben, zu einem vereinbarten Zeitpunkt über Connewitz herzufallen, verschwinden die Anstifter dieser Aktion völlig aus dem Blickfeld und die Richter haben es auf einmal nur mit lauter zumeist jungen Männern zu tun, die eher zufällig mit dabei waren.

Mit der Folge, dass gegen jeden Einzelnen verhandelt wird, die Gerichte also regelrecht mit Einzelfällen verstopft werden, Termine für Verhandlungen schwer zu finden sind und die meisten Angeklagten nach gewissen Geständnissen mehr oder weniger mit einem blauen Auge davonkommen.

Die dahinter existierenden rechtsextremen Strukturen aber werden weder ausermittelt noch zur Anklage gebracht.

Kein Wunder, dass auch bei Juliane Nagel so nach und nach die Frustration spürbar wird, wenn sie die neuen Zahlen zu den Connewitz-Verhandlungen abfragt. So wie sie es jetzt wieder gemacht hat.

Denn am morgigen 11. Januar 2022 jährt sich zum sechsten Mal der Angriff auf Leipzig-Connewitz. Über 200 Neonazis waren am Abend des 11. Januar 2016 im Stadtteil eingefallen, hatten Läden und Autos zerstört und auch versucht, Menschen anzugreifen. Seit August 2018 laufen Prozesse gegen die 217 Angeklagten wegen des Vorwurfs des besonders schweren Falls von Landfriedensbruch.

Laut der aktuellen Antwort aus dem Justizministerium waren zum 20. September 2021 insgesamt 163 Angeklagte rechtskräftig verurteilt worden, das entspricht einem Anteil von 75 Prozent (Drucksache 7/7567), rechnet Juliane Nagel vor. Vor einem Jahr waren es 70 Prozent. Seitdem hat sich wenig getan.

Unter anderem wurde der Geschäftsführer der Leipziger Sicherheitsfirma Pro GSL zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Er war deswegen von der Gewerbebehörde der Stadt Leipzig als unzuverlässig erklärt und von seiner Funktion abberufen worden. Im Februar 2022 steht der Prozess gegen den sächsischen Justizbeamten Kersten H. an, der trotz Anklage bis 2019 im Staatsdienst war (Drucksache 6/18779).

„Kaum jemand erhofft sich aus den Prozessen gegen die verbliebenen Angeklagten noch großartige Erkenntnisse“, kommentiert die Landtagsabgeordnete Juliane Nagel die neuen Zahlen.

„Die Ermittlung der Drahtzieher des generalstabsmäßig geplanten Angriffs auf den linksalternativen Stadtteil ist vor Gericht kein Thema, obwohl Chatprotokolle belegen, dass Instruktionen gegeben wurden und der Angriff in der Szene überregional geplant wurde. Die Angeklagten werden für halbherzige Geständnisse ihrer Teilnahme an dem gewalttätigen Mob zu milden Strafen verurteilt. Die Prozesse schleppen sich weiter dahin, obwohl sie sich durch die gängigen Verfahrensabsprachen massiv verkürzt haben. Es bleibt der bittere Eindruck, dass die Justiz wenig Interesse daran hat, das Kartell des Schweigens zu durchbrechen. Das beschädigt das Vertrauen in den Rechtsstaat.“

Ob es wirklich die Justiz ist, die hier nicht mehr wissen will, ist freilich die entscheidende und offene Frage. Denn hätte sich die Polizei schon zu Beginn auf die Ermittlung der organisatorischen Strukturen konzentriert, hätte es längst einen Prozess von der Dimension des Prozesses gegen Lina E. geben müssen. Und zwar nicht wegen Landfriedensbruch, sondern eher wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung.

So aber kommen die Angeklagten meist mit Bewährungsstrafen davon, auch wenn sie sich vor Gericht schuldig bekannt haben. „Alle Angeklagten wurden wegen ihrer Beteiligung an den Ausschreitungen in Leipzig-Connewitz wegen Landfriedensbruch schuldig gesprochen, wobei die Gerichte – soweit Erwachsenenstrafrecht Anwendung fand – jeweils das Vorliegen eines besonders schweren Falls nach § 125a Strafgesetzbuch (StGB) angenommen haben“, teilt das Justizministerium mit. Hier kommen das Mitführen von Waffen und auch die vollzogenen Plünderungen ins Spiel.

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