Die ersten beiden Auftakt-Prozesstage vor dem Dresdner Staatsschutzsenat sind vorรผber, ein weiterer Doppeltermin steht ab heute, Montag, den 13. September 2021 unmittelbar bevor. Wer vorab noch gedacht hatte, dass das Verfahren rings um die Angeklagten Lina E., Lennart A., Jannis R. und Jonathan M. angesichts der unzรคhligen Verhandlungstage bis Frรผhjahr 2022 gemรคchlich beginnen wรผrde, sah sich bereits am 8. und 9. September 2021 eines Besseren belehrt. Der ruhigste Moment war letztlich die einstรผndige Klageverlesung, danach ging es um fehlende Unterlagen, durchgestochene Informationen, rechte Nebenklรคger und die Frage, ob es รผberhaupt jemals eine โ€žGruppe E.โ€œ und somit einen Anlass fรผr ein โ€ž129er Verfahrenโ€œ gab.

Seit November 2020 befindet sich Lina E. in Untersuchungshaft. Fรผr die Bundesstaatsanwaltschaft unter dem bislang eher wortkargen Hauptanklรคger Bodo Vogler soll sie in wenigstens zwei Fรคllen die โ€žKommandofรผhrerinโ€œ bei insgesamt acht verschiedenen รœberfรคllen auf rechte bis rechtsextreme Mitmenschen seit dem August 2018 bis ins Jahr 2020 hinein gewesen sein. Insgesamt 13 Personen seien dabei zu Schaden gekommen, die Verletzungen erstrecken sich dabei von multiplen Prellungen am ganzen Kรถrper bis hin zu schweren Kopf- und Gesichtsverletzungen.Teilweise โ€žlebensgefรคhrlichโ€œ nennt die Staatsanwaltschaft am 8. September 2021 diese Verletzungen, auch, weil dabei โ€žTatwerkzeugeโ€œ eingesetzt worden seien. Zudem habe ein Angeklagter, Jonathan M., seine Fรคhigkeiten โ€žim Kampfsport eingebrachtโ€œ. Die โ€žFรผhrerschaftโ€œ Lina E.s glaubt man ihr nachweisen zu kรถnnen, da sie es beispielsweise bei einem ihr und den anderen Angeklagten zur Last gelegten รœberfall am 19. Oktober 2019 im Erfurter Lokal โ€žBulls Eyeโ€œ gewesen sein soll, die โ€“ vermummt, wie alle anderen โ€“ den โ€žRรผckzugsbefehlโ€œ gegeben habe.

Im Weiteren, so wurden die Vorwรผrfe am 8. September 2021 prรคzisiert, habe sie wenigstens einen, den Wurzener Tatort, beim รœberfall am 30.10.2018 auf Cedric S. im August desselben Jahres mittels Fotos ausgespรคht, bei einem versuchten Diebstahl am 13.12.2019 Tatwerkzeuge zu beschaffen versucht und zudem ein Auto, einen VW Golf, als Tatfahrzeug bereitgestellt. Sie ist aus Sicht der Bundesstaatsanwaltschaft neben ihrem flรผchtigen โ€žLebensgefรคhrtenโ€œ Johann G. Dreh- und Angelpunkt einer โ€žkriminellen Vereinigungโ€œ, welche man nach Paragraf 129 monatelang durch das LKA Sachsen รผberwachte.

Die Angeklagten wรผrden zudem โ€ždas staatliche Gewaltmonopol negierenโ€œ und hรคtten โ€žzur Radikalisierung der Gesellschaft beigetragenโ€œ, so die Bundesstaatsanwรคlte in ihrer Erรถffnung. (hier findet sich eine โ€žChronik zu den Vorwรผrfenโ€œ auf L-IZ.de)

Die Verteidigung

Bundesstaatsanwalt Bodo Vogler vertritt die Anklage. Foto: Peter Schulze
Bundesstaatsanwalt Bodo Vogler vertritt die Anklage. Foto: Peter Schulze

Auffรคllig ist, wie oft die Anklรคger bei der Verlesung ihrer Vorwรผrfe versuchen, Lina E. zum Kopf einer Gruppe zu machen, von der sie โ€“ so die Verteidigung โ€“ andererseits nicht einmal den Grรผndungszeitpunkt, die genaue Gruppenstรคrke und die wirklichen Verabredungen kennen soll. Mal seien es angeblich 15 bis 20 Angreifer gewesen, dann wieder nur sechs. Zudem lรคgen trotz monatelanger รœberwachung keine Hinweise auf die Organisationsstruktur der โ€žVereinigungโ€œ vor.

Schon hier wurde deutlich, dass es zu spannenden Szenen kommen kรถnnte, wenn etwa LKA-รœberwachungsprotokolle im Prozess zur Sprache kommen.

Bereits in der ersten Klageerwiderung betonten die nahezu durchgehend geschlossen agierenden acht Verteidigerinnen, dass in diesem Material, welches maรŸgeblich bei Abhรถrungen des Geschehens in und um den VW Golf entstanden sein soll, jede Menge Banalitรคten und eben keine Verabredungen zu Straftaten enthalten sind. So sei dort beispielsweise von โ€žBezugsgruppenโ€œ die Rede, ein Begriff, der eher auf eine bevorstehende Teilnahme an einer antifaschistischen Demonstration zeuge, als von einem kriminellen Vorhaben.

Wรคhrend von auรŸen betrachtet die fehlenden Bekennerschreiben der angeblichen โ€žGruppe E.โ€œ noch Mittel zum Zweck der Verschleierung sein kรถnnten, legte die Verteidigung vor allem auf einen Umstand wert: Der polizeiliche Ermittlungsband โ€žOrganisationโ€œ sei leer, es lรคgen keine Nachweise fรผr eine โ€žkriminelle Vereinigungโ€œ vor. Zumal nicht nach den Prรคmissen, unter denen der Straftatbestand 1976 im Angesicht der RAF eingefรผhrt worden sei.

Ursprรผnglich gedacht, um Terror und organisierte Kriminalitรคt wie beispielsweise der italienischen Mafia mittels sogenannter TelekommunikationsmaรŸnahmen (TKรœ) wirksam aufklรคren zu kรถnnen, sei hier eine politische gewollte Ausdehnung des 129ers im Laufen, welche sich bereits bei den erfolglosen รœberwachungen der Fanszene der BSG Chemie Leipzig, Dresden Nazifrei oder der angeblichen โ€žSportgruppeโ€œ um den Jenaer Jugendpfarrer Lothar Kรถnig zeigte.

Es blieben, so das Verteidigungs-Fazit am Ende des ersten Tages, also lediglich acht einzelne Tatvorwรผrfe รผbrig, die auch jedem der Angeklagten einzeln bewiesen werden mรผssten. Den kriminellen Zusammenschluss hingegen habe es nie gegeben. Dennoch versuche, so der Vorwurf der Verteidigerbank an die Anklรคger, die โ€žBundesstaatsanwaltschaft hier herauszubekommen, wie weit der 129er trรคgtโ€œ.

Ein Vorgehen, das allerdings auch bei der rechtsextremen โ€žGruppe Freitalโ€œ zum Tragen kam, welches ebenfalls durch den Vorsitzenden Richter Hans Schlรผter-Staats verhandelt und 2018 mit Haftstrafen fรผr die Haupttรคter von vier bis zehn Jahren zum Abschluss gebracht wurde.

Verwunderlich jedoch ist bei diesem letztlich schiefen Vergleich dennoch, dass die angebliche Vereinigungsbildung im Falle Lina E.s nur fรผr sie allein zur Untersuchungshaft fรผhrte, wรคhrend sich die drei mitangeklagten Mรคnner auch wรคhrend der Verhandlungen in Freiheit befinden. Hinzu kommt die scheinbare Leere in der Akte โ€žOrganisationโ€œ im Verfahren rings um Lina E., also ein gehรถriger Mangel an Nachweisen fรผr Kommunikations- und Organisationsstruktur einer angeblich organisierten und gemeinsam handelnden Vereinigung.

Erschwerende Umstรคnde und Vorverurteilungen

Trotz der langen Untersuchungshaft Lina E.s seit nunmehr 10 Monaten scheint der Prozess in aller Eile vorbereitet worden zu sein, was sich in den ersten beiden Tagen darin รคuรŸerte, dass die Verteidigung zum Prozessauftakt massiv und mehrfach monierte, fรผr sie dringend benรถtigte Unterlagen nicht vorliegen zu haben.

Der Vorsitzende Richter im Prozess gegen die "Gruppe Freital", nun gegen Lina E.: Hans Schlรผter-Staats. Foto: Peter Schulze
Der Vorsitzende Richter im Prozess gegen die โ€žGruppe Freitalโ€œ, nun gegen Lina E.: Hans Schlรผter-Staats. Foto: Peter Schulze

Ein Umstand, der bereits am zweiten Tag zu ersten Verzรถgerungen fรผhrte, als das Gericht das von der Verteidigung verlangte Vorstrafenregister des Leipziger Nebenklรคgers und ersten Zeugen Enrico Bรถhm nicht vorlegen konnte. Seine Aussage entfiel damit am 9. September und soll nun am heutigen 13.09. nachgeholt werden, da die anschlieรŸend beigebrachten Materialien zu voluminรถs waren, um sie wรคhrend des Verhandlungstages durchzusehen.

Erschwerend kรคme hinzu, so Ulrich von Klinggrรคff als Verteidiger von Lina E., dass es โ€žseit Beginn des Verfahrens immer wieder โ€šDurchstechereienโ€˜ seitens der Behรถrden an die rechte Presse und den Boulevard gebe. Die letzte wohl kurz vor Prozessauftakt, als bei โ€šFocus Onlineโ€˜ Bilder und Informationen auftauchten, welche die Verteidigung gerade erst zur Kenntnis bekommen hatteโ€œ.

Um welche Polizeibehรถrde es sich dabei genau handele, kรถnne Klinggrรคff noch nicht sagen, doch jeder Prozessbeteiligte weiรŸ, dass auch unter der Ermittlungsleitung des Bundeskriminalamtes im Fall Lina E. das LKA Sachsen und hier im Besonderen die โ€žSoko LinXโ€œ die Ermittlungen fรผhrte und fรผhrt. Eine Abteilung des Landeskriminalamtes, gegen welche mindestens indirekt seit Anfang Juli 2021 vier Strafanzeigen im Fall Henry A. bei der Staatsanwaltschaft Chemnitz liegen โ€“ darunter eine des Oberbรผrgermeisters der Stadt Leipzig Burkhard Jung wegen Datenhehlerei, eine des Verteidigers von Henry A. und zwei Eigenanzeigen aus dem LKA heraus.

Zum Fortschritt der Ermittlungen, die zwangslรคufig ins LKA Sachsen, mindestens aber in den sรคchsischen Strafverfolgungsapparat fรผhren dรผrften und auch Erkenntnisse bei den rechten Medienkontakten im Fall Lina E. bringen kรถnnten, mรถchte sich die Chemnitzer Staatsanwaltschaft auch auf mehrfache LZ-Anfrage seit Wochen nicht รคuรŸern. Bislang behauptet man lediglich, es seien Ermittlungen eingeleitet worden.

Auch im Fall Lina E. hรคtten konservativen bis rechtsradikalen Medien wie โ€žCompactโ€œ offenbar originale Ermittlungsakten vorgelegen, da aus diesen wรถrtlich zitiert wurde, so Klinggrรคff. Zudem seien private Fotos von Lina E. verรถffentlicht worden, so der Verteidiger zum Versuch, seine Mandantin noch vor Prozessbeginn medial zu verurteilen.

Die Nebenklรคgeranwรคlte und die ersten Zeugen

Arndt Hohnstรคdter, Frank Hannig und Martin Kohlmann. Das sind die Namen der bislang bekannten Anwรคlte, die die Nebenklรคger, darunter der Ex-NPD-Stadtrat Enrico Bรถhm und Cedric S., gegen Lina E. und die drei weiteren Angeklagten vertreten. Namen, die wie das Who is Who der Anwaltsszene Sachsens klingen, welche vor allem mit rechtsradikalen bis -extremen Mandanten bekannt wurden und so gleichzeitig aufzeigen, auf welche Geschรคdigte und Zeugen sich hier die Bundesstaatsanwaltschaft neben den eigenen Ermittlungen im Verfahren stรผtzen muss.

War bereits am zweiten Verhandlungstag angereist: Nebenklรคger und Zeuge Enrico Bรถhm. Foto: Peter Schulze
War bereits am zweiten Verhandlungstag angereist: Nebenklรคger und Zeuge Enrico Bรถhm. Foto: Peter Schulze

Namen, รผber die im Verlauf des Prozesses โ€žnoch zu reden sein wirdโ€œ, so die eher links eingestellte Verteidigerseite, welche am 9. September 2021 darauf hinwies, dass der Dresdner Rechtsanwalt Hannig sein Laptop samt Kamera quer durch den Gerichtssaal auf sie und ihre Mandanten ausgerichtet habe.

Wรคhrend man diesen Juristen aus PEGIDA-Zusammenhรคngen und neuerdings auch als Verteidiger in โ€žQuerdenkerโ€œ-Kreisen kennt, saรŸ mit dem Chemnitzer Juristen Martin Kohlmann am 8. September 2021 einer der bekanntesten Rechtsextremisten Sachsens als Anwalt auf der Bank der Nebenklรคger.

Der Vorsitzende der Chemnitzer Stadtratsfraktion von โ€žPro Chemnitzโ€œ ist zugleich Mitgrรผnder und Vorsitzender der Partei โ€žFreie Sachsenโ€œ. Beide Organisationen werden vom Verfassungsschutz Sachsen als rechtsextrem eingestuft, derzeit entfalten die โ€žFreien Sachsenโ€œ mit Unterstรผtzung des Rechtsextremisten Michael Brรผck (Die Rechte) bei diversen Demonstrationen gegen CoronamaรŸnahmen wie zuletzt am 2. September 2021 in Liebertwolkwitz ihre Wirkung im โ€žQuerdenkerโ€œ-Umfeld.

Der Einfluss reicht dabei bis hin zur โ€žBรผrgerbewegung Leipzigโ€œ unter Ex-NPD-Kader Volker Beiser, auch hier verteilt man die Telegramposts der Partei.

Im Zuge der โ€žQuerdenkenโ€œ-Demonstration vom 7. November 2020 trat Kohlmann zudem als Anwalt des โ€žHonk for Hopeโ€œ-Busunternehmers Thomas Kaden auf. Heute ist dieser mit ihm gemeinsam ein โ€žfreier Sachseโ€œ, selbst die anderen โ€žHonk for Hopeโ€œ-Busunternehmen des โ€žQuerdenkerโ€œ-Netzwerkes sollen sich laut der โ€žFreien Presseโ€œ 2021 von ihm distanziert haben, da er an einer Demonstration der rechtsextremen Kleinstpartei โ€žIII. Wegโ€œ teilgenommen habe.

Seite an Seite mit Frank Hannig fand sich am 9. September 2021 fรผr seinen Mandanten Bรถhm mit dem Leipziger Rechtsanwalt Arndt Hohnstรคdter zudem ein ehemals fรผhrendes โ€žLegidaโ€œ-Mitglied auf der Nebenklรคgerbank ein. Heute vertritt er nach seinem Engagement fรผr den fremdenfeindlichen Leipziger PEGIDA-Ableger bis zum 9. Januar 2017 unter anderem Mandanten wie den bekannten rechten Kampfsportler und Wurzener Stadtrat Benjamin Brinsa auch in zivilrechtlichen Fragen.

Ihre Mandanten, allen voran der mehrfach vorbestrafte Leipziger Enrico Bรถhm (Der Schelm-Verlag) werden in den kommenden Prozesstagen als Geschรคdigte aussagen.

Wie komplex es wird, die Taten den vier Angeklagten nicht nur vorzuwerfen, sondern auch im Einzelnen lรผckenlos nachzuweisen, zeigte sich schon vor diesem ersten Zeugen. Am 9. September trat mit dem Sachverstรคndigen Dr. Andreas Lippold der erste Gutachter im Falle Bรถhms in den Prozess ein.

Der LKA-Sachverstรคndige erlรคuterte dabei, dass man beim LKA Sachsen vom ganzen รœberfallgeschehen am Morgen des 2. Oktober 2018 auf Enrico Bรถhm vor dessen Haustรผr letztlich eine verwertbare DNA-Misch-Spur mit einem 10 Prozent-Anteil von einem der Angeklagten auf einem vollen Mรผllbeutel gefunden hรคtte. Und da er die Beweisaufnahme und DNA-Analyse gar nicht selbst gemacht habe, sondern sein Kollege Dr. Carsten Salomo (wie die Verteidigung nicht mรผde wurde zu betonen) erlรคuterte er vorerst nur das molekularbiologische Verfahren.

Wie sauber diese Spur zu gerade einmal einem der vier Angeklagten in diesem einen von acht Fรคllen ist, wird wohl erst die Anhรถrung von Dr. Salomo wirklich zeigen kรถnnen.

Die Diensthundestaffel fand รผbrigens an diesem 2. Oktober 2018 keine Spuren der Angreifer, weitere Zeugen auรŸer dem Geschรคdigten Bรถhm gรคbe es keine. Dieser wird nun am heutigen 13. September 2021 aussagen, morgen soll es dann um die beiden รœberfรคlle auf die Eisenacher Lokalitรคt โ€žBulls Eyeโ€œ gehen.

Natรผrlich nur, wenn alle dafรผr nรถtigen Akten bei diesem holprigen Start vor dem Dresdner Staatsschutzsenat vorliegen.

Nachtrag der Redaktion: Die Aussage Enrico Bรถhms findet nicht am 13. September statt. Der Termin vom 09.09. wurde unbekannt verschoben.

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