Es ist der 28. April 2021, morgens 6 Uhr, als es bei Henry A. an der Wohnungstür im Leipziger Süden klingelt. Der Stadtverwaltungsmitarbeiter öffnet die Tür und steht reichlich überrascht einer Gruppe Beamter des Landeskriminalamtes Sachsen und dem Leipziger Staatsanwalt Alexander König gegenüber. Man hat einen Durchsuchungsbeschluss dabei, es geht um Landfriedensbruch.
Der Vorwurf für die Durchsuchungen am 28. April: Am 1. September 2019 fand am Bahnhof Neukieritzsch gegen 10:30 Uhr ein Überfall auf Auswärtsfans des 1. FC Lokomotive Leipzig statt. Dabei warfen laut Zeugen bis zu 30, mit weißen Sturmhauben maskierte Personen Pyrotechnik in die Regionalbahn, in der die Ultras der „Fanszene Lok“ zum Spiel ihrer Mannschaft gegen den ZFC Meuselwitz unterwegs waren.Ein Mann erlitt dabei ein Knalltrauma, gilt als maßgeblicher Geschädigter, den die Staatsanwaltschaft im Durchsuchungsbeschluss auch namentlich nennt. Wer die Strafanzeige gestellt hat, geht aus dem Beschluss nicht hervor.
Henry A. soll sich an diesem Überfall maßgeblich beteiligt haben, eröffnen ihm die LKA-Beamten am 28. April 2021. Anschließend durchwühlen sie im Beisein seiner Partnerin und ihrem gemeinsamen Baby etwa 14 Stunden lang die gemeinsame Wohnung, Blumenkästen, Schränke und Betten.
Selbst eine kleine Grünfläche im Innenhof wird abgesucht, am Ende nehmen die Ermittler neben dem Mobiltelefon von Henry A. und Datenträgern sogar das Babyphone des Paares mit.
Das Domizil des Paares sieht danach aus wie ein Schlachtfeld. Für das Landeskriminalamt Routine. Für Henry A. die Fortsetzung eines Albtraumes, der 2016 begann.
Engmaschig überwacht, dreimal Einstellung der Ermittlung
2016 erfährt der damalige Geschäftsführer der BSG Chemie Leipzig davon, dass er seit 2013 über Monate hinweg wegen des Vorwurfs, Teil einer kriminellen Vereinigung zu sein, nach § 129 engmaschig überwacht wurde. Darin wirft man ihm und einem weiteren Dutzend Personen in Leipzig vor, in damals rund zehn verschiedenen Fällen gezielt Menschen angegriffen und brutal verprügelt zu haben, die dem rechten bis rechtsextremen politischen Lager zugerechnet werden.
Schnell wird diese mit mindestens 215 belauschten Personen größte polizeiliche Überwachung Sachsens nach 1989 im Nachgang als einer der größten Fehlschläge des LKA Sachsen gelten. Und zum Skandal werden.
Denn mit teils ins Lächerliche reichenden, fadenscheinigen Begründungen verlängert mindestens zweimal ein Dresdner Ermittlungsrichter die sogenannten „Telekommunikationsüberwachungen“ (TKÜ) auf Antrag eines Dresdner Staatsanwaltes. Und die eifrigen Kriminalbeamten hören widerrechtlich Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten ab, notieren ebenfalls widerrechtlich die Telefonate.
In dieser Zeit dichten sie einen Fanweihnachtsmarkt der BSG Chemie zu einer Geldbeschaffung der angeblichen kriminellen Vereinigung um, notieren selbst vertrauliche Gespräche unwichtigen Inhalts mit Journalist/-innen und übertreten damit Berufsgeheimnisregeln. Und jede Form des Datenschutzes, indem sie diese unberechtigt erhobenen Daten jahrelang nicht löschen, während die Betroffenen uninformiert bleiben.
Die Vermutung von Beobachtern des Geschehens damals bereits: Hier sammeln Beamte willkürlich auf Vorrat und in der tiefen Überzeugung, ein kriminelles, linksextremes Netzwerk von bis zu 215 Personen vor sich zu haben. Dem man nur nichts beweisen kann. Während man anderen Menschen vorwirft, aus einer politischen Ideologie heraus Rechtsradikalen nachzustellen, handelt man selbst offenbar eher nach ideologischen Überzeugungen statt beweisbaren Fakten.
Der Datenschutzbeauftragte des Landes Sachsen, Andreas Schurig, merkte in seinem offiziellen Tätigkeitsbericht 2017/18 zu diesem Vorgang unter anderem an: „Im Sommer 2018 habe ich (…) das Landeskriminalamt wegen der Verletzung seiner Mitwirkungspflichten bei der Einhaltung von Verfahrensregelungen im Rahmen von Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) nach § 100a StPO gemäß § 29 Absatz 1 SächsDSG gegenüber dem Sächsischen Staatsministerium des Innern förmlich beanstandet. Ebenso erging eine Beanstandung der Staatsanwaltschaft Dresden wegen Verstößen gegen die gesetzliche Pflicht, Aufzeichnungen von Kommunikation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung bzw. mit besonders geschützten Berufsgeheimnisträgern unverzüglich zu löschen, gegenüber dem Sächsischen Staatsministerium der Justiz.“
In Henry A. sehen die derart gemaßregelten Ermittler offenkundig einen der Drahtzieher der objektiv nicht vorhandenen „kriminellen Vereinigung“: Kein anderer Beschuldigter wird derart eng mittels eines IMSI-Catchers telefonisch überwacht, sogar direkt von Beamten observiert und seine Netzaktivitäten abgefangen.
„Die wussten immer, wann ich mir eine Pizza bestelle, wohin ich gehe und mit wem ich rede – monatelang“, so Henry A. über das, was er im Nachgang durch Akteneinsicht aus dieser Zeit erfährt. Allein seine Abhörprotokolle füllen einen ganzen Aktenschrank, als die TKÜ-Maßnahmen endlich eingestellt werden müssen.
Ein Leipziger Staatsanwalt schließt im Oktober 2016 die Überwachungs-Akte endgültig, der Fall wird unter Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) praktisch nicht aufgearbeitet und ist mehrfach Gegenstand von Oppositions-Anfragen im sächsischen Landtag. Die CDU-geführte Regierung mauert, Konsequenzen für die handelnden Ermittler, Staatsanwälte und den Richter gibt es keine.
Auf LZ-Nachfrage, welche Regeln und Monitoringprozesse es im LKA Sachsen gibt, um der Verfolgung Unschuldiger wirksam entgegenzuwirken, antwortet LKA-Sprecher Tom Bernhardt am 6. Mai 2021: „Nein, da hierfür grundsätzlich kein Bedarf besteht. Bei Anfall kann die bestehende Struktur darauf sofort reagieren.“
Ausschließen, dass sich hier ein paar Ermittler in den für sie katastrophal verlaufenen „Fall Henry A.“ schlicht verbissen haben könnten, kann er so nicht. Dass sie dabei selbst Straftaten begehen könnten, ebenfalls nicht. Seit dem Überwachungsskandal 2016 müssen TKÜ-Maßnahmen zumindest von drei Richtern und nicht mehr nur von einem gegengezeichnet werden.
Kein Ende, nirgends …
Doch der Verfolgungseifer der Ermittler hat damit noch kein Ende gefunden, für Henry A. ist die Sache damit nicht ausgestanden. Es wird in drei Fällen ermittelt, welche die Beamten als Beifang aus dem großen Lauschangriff auf sein gesamtes Privat- und Berufsleben ableiten. Den Fall eines brutalen Überfalls von Hooligans aus dem rechtsradikalen 1. FC Lok-Umfeld am Goerdelerring am 10.05.2014 hingegen lassen die Ermittler liegen, gehen diesem auch auf Nachfrage der LZ im Jahr 2017 nicht nach.
Obwohl die Namen der Angreifer um den bekannten Leipziger Kriminellen Benjamin B. in Telefonaten der Abgehörten um Henry A. genannt werden, gibt es keine Ermittlungen wie bei Henry A. von Amts wegen.
Alle drei Ermittlungen gegen Henry A. müssen ohne Anklagen eingestellt werden, die Ermittler finden nichts. Und dies, obwohl sie dank der Überwachungsmaßnahmen deutlich mehr über ihn wissen, als über so manch anderen Beschuldigten.
Hier könnte Schluss sein in einer für die Ermittlungsbehörden peinlichen Geschichte. Wären da nicht Überzeugungen, die für einige Beamte offenbar Beweise ersetzen.
Trotz dreier Verfahrenseinstellungen, trotz der massiven Eingriffe in seine Privatsphäre, trotz aller Gegenbeweise: Für das LKA Sachsen ist der Ex-BSG-Geschäftsführer offenbar bis heute Teil einer hochkriminellen, linksextremen Umgebung. Jedenfalls, so sein langjähriger Strafverteidiger Christian Avenarius gegenüber LZ, komme es auch ihm längst so vor, dass „wenn irgendetwas passiert, kommen die bei meinem Mandanten vorbei“.
In der Folge erfährt Henry A. im Jahr 2021, dass der Verfassungsschutz Sachsen trotz mangelnder Beweise ebenfalls Daten über ihn sammelt. Über ihn, einen Mitarbeiter der Stadtverwaltung Leipzigs, der vielleicht vor allem einen Fehler gemacht hat: Im sächsischen Leipzig ehrenamtlich für den als links bekannten Verein BSG Chemie tätig gewesen zu sein.
Der Teil 2 rings um die aktuellen Ermittlungen gegen Henry A. unter „Unschuldig verfolgt (2): Selbstmordversuche, enge Polizei-Drähte nach rechts und ein anonymer Anruf” auf L-IZ.de.
Der Teil 3 rings um die aktuellen Ermittlungen gegen Henry A. unter „Unschuldig verfolgt (3): Anonyme Beschuldigungen und eine Ermittlungsakte als Katastrophenbericht” auf L-IZ.de.
„Unschuldig verfolgt“ erschien erstmals am 28. Mai 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 91 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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