An Connewitzer Häuserwänden ist der Schriftzug „Free Lina“ mittlerweile nicht mehr zu übersehen. Die Bundesanwaltschaft wirft der 26-Jährigen neben weiteren Straftaten die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor. Im Kern gehen die Ermittler davon aus, dass ein fester Personenkreis um die Studentin und ihren früheren Lebensgefährten Johann G. (27) gezielt Personen ausgespäht und brutal angegriffen hat, die sie der rechten Szene zuordneten. Die LZ fasst zusammen, was bislang über das Verfahren durch Presseberichte und Pressemitteilungen der Ermittlungsbehörden bekannt geworden ist.

15. Januar 2015: Während einer Spontandemonstration in der Leipziger Südvorstadt richten Autonome Sachschäden an Geschäften und dem Dienstgebäude des Amtsgerichts in der Bernhard-Göring-Straße an. Unter ihnen: Johann G., der von seinen Freunden „Lücke“ genannt wird. Ermittler sollen später seine DNA an einem Stein festgestellt haben.19. April 2018: Das Landgericht Leipzig verurteilt Johann G. unter anderem aufgrund des DNA-Beweises wegen der Beteiligung an den Südvorstadt-Randalen in zweiter Instanz zu 19 Monaten Haft. Wegen zahlreicher Vorstrafen setzen die Richter die Strafe nicht zur Bewährung aus. Im Zuschauerraum sitzen neben einigen Journalisten die Großmutter des Angeklagten und eine junge Frau mit langen Haaren.

Sie müssen sich mitanhören, wie der Richter Johann G. maßregelt. „Sie leben in den Tag hinein, haben eine Latte von Vorstrafen. Von so einem wie ihnen darf der Rechtsstaat einen derart massiven Angriff nicht einfach hinnehmen.“

G. hatte zuvor ausgesagt, zeitweilig an erheblichen Depressionen gelitten zu haben. Prozessbeobachter konnten damals den Eindruck gewinnen, einen psychisch labilen Mann Mitte Zwanzig gegenüberzusitzen, der seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hatte.

Die Ermittler gehen der Hypothese nach, der Leipziger könnte seine Freundin Lina, die in Halle/S. ab 2013 Erziehungswissenschaften studierte, weiter radikalisiert und an die militante Autonomenszene herangeführt haben. Bewiesen ist das nicht.

30. Oktober 2018: Cedric S. (23) wird in Leipzig auf dem Weg zum Fußballtraining angegriffen. Hintergrund könnte seine Beteiligung an dem Neonazi-Angriff in Connewitz am 11. Januar 2016 gewesen sein. Die Ermittler schreiben den Angriff nun der Gruppe um Lina E. zu.

8. Januar 2019: Fünf Vermummte schlagen vormittags in Connewitz den Kanalarbeiter Tobias N. (31) zusammen, der gerade mit einem Arbeitskollegen Dachrinnen reinigt. Einer soll dem Mann unvermittelt einen Faustschlag ins Gesicht verpasst haben. Anschließend begannen die Angreifer auf ihr am Boden liegendes Opfer einzuschlagen.

Eine Frau, nach Version der Ermittler handelte es sich um Lina E., soll umstehende Passanten mit Pfefferspray vom Eingreifen abgehalten haben.

Sie sagte demnach sinngemäß, das Opfer sei ein Nazi und habe die Schläge verdient. Der Anlass für die Tat: N. trägt eine Mütze der bei Rechtsextremen beliebten Marke „Greifvogel Wear“. Der Geschädigte erleidet schwere Verletzungen im Gesicht. Auch an diesem Angriff soll Lina E. beteiligt gewesen sein.

Johann G. (25, l.) mit seinem Anwalt Christian Avenarius. Foto: Lucas Böhme
Johann G. (l.) wurde 2018 vom Landgericht zu 19 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Zurzeit befindet sich der heute 27-Jährige auf der Flucht. Foto: Lucas Böhme (Archiv)

September 2019: Johann G. wird aus der Haft entlassen. Auf Bewährung. Die Ermittler gehen heute davon aus, dass G. sich kurz danach der Gruppe um seine damalige Lebensgefährtin Lina E. anschloss.

Die „Welt“ berichtet, G. habe laut einem internen Schreiben des Bundesamts für Verfassungsschutz umgehend versucht, seinen Aufenthaltsort zu verschleiern. So soll er nicht an seiner Meldeanschrift bei seiner Großmutter in Dortmund gelebt, sondern sich in Leipzig aufgehalten haben. Hier bezog er Sozialleistungen. Die Behördenpost soll allerdings zur Wohnanschrift der Großmutter gegangen sein. Zu Rücksendungen sei es nicht gekommen.

Sein angebliches Abtauchen fiel offenbar nicht auf. Laut „Welt“ hatte G. am 27. Januar 2020 zum letzten Mal Kontakt mit seinem Bewährungshelfer. Ende Februar reiste er nach Thailand. Anfang Juli kehrte er in den Schengen-Raum zurück.

19. Oktober 2019: Erster Angriff auf die Kneipe „Bull’s Eye“ in Eisenach, den die Ermittler der Gruppe um Lina E. und Johann G. zuschreiben. Über ein Dutzend Angreifer attackieren in den frühen Morgenstunden Wirt Leon R. und Gäste mit Reizgas und Schlagwerkzeugen.

Die Täter zerstören Mobiliar und eine Fensterscheibe. Sechs Menschen werden nach Polizeiangaben leicht verletzt. Laut „Welt“ können die Ermittler am Tatort festgestellte DNA-Spuren Johann G. zuordnen.

29. November 2019: In Leipzig werden Kfz-Kennzeichen entwendet. Die Polizei wird sie am 14. Dezember 2019 am Auto von Lina E.’s Mutter entdecken, das die Aktivistin mitbenutzte.

13. Dezember 2019: Lina E. stiehlt in einem Leipziger Baumarkt zwei Hämmer (Wert: 37,98 Euro). Die Studentin wird auf frischer Tat erwischt.

14. Dezember 2019: Leon R., Betreiber des „Bull’s Eye“, und seine Begleiter werden diesmal in der Nähe seiner Wohnung angegriffen. Der Rechtsextremist erleidet Verletzungen. Die Angreifer können zunächst flüchten. Die Polizei stoppt kurze Zeit später einen VW Golf und einen Skoda Octavia.

Von den sieben Insassen werden vier festgesetzt. Die Beamten teilten damals mit, dass diese aus dem Raum Weimar, Kassel, Berlin und Braunschweig gekommen seien. Unter ihnen: Lina E.

15. Februar 2020: Bis zu 20 Personen greifen in Leipzig sechs Neonazis an, die von dem rechtsextremen „Trauermarsch“ in Dresden heimkehren. Wie „Die Welt“ berichtet, hätten die Vermummten den Ermittlungen zufolge mit Teleskopschlagstöcken und Bierflaschen auf die Rechtsradikalen eingeschlagen. Auch ein 15-Jähriger habe demnach zu den Opfern gehört.

Abgehörte Gespräche von Tatverdächtigen sowie Videoaufnahmen aus einem Regionalexpress würden Lina E.’s Tatbeteiligung beweisen.

Juni 2020: Lina E. soll an der Observation eines Leipziger Kampfsportlers beteiligt gewesen sein. Der Jurist war an dem Neonazi-Angriff in Connewitz am 11. Januar 2016 beteiligt. Die Bundesanwaltschaft geht von der „Vorbereitung eines Anschlags“ aus.

10. Juli 2020: Lina E. wird vorläufig festgenommen. Ein Ermittlungsrichter erlässt Haftbefehl. Nach ein paar Tagen in der JVA kommt die Studentin auf freien Fuß. Die Connewitzerin meldet sich laut ihrer Mutter regelmäßig bei der Polizei, wie es das Gericht angeordnet hat.

Vor einer erneuten Inhaftierung wird sie die Erfüllung der Meldeauflage trotzdem nicht bewahren. Am gleichen Tag ergeht durch das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen ein erster Haftbefehl gegen Johann G.

5. November 2020: E. wird in ihrer Connewitzer Wohnung erneut festgenommen. Inzwischen ermittelt der Generalbundesanwalt gegen neun Beschuldigte wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB). Tags darauf wird die Studentin per Hubschrauber nach Karlsruhe zum Bundesgerichtshof geflogen. Der Ermittlungsrichter erlässt einen neuen Haftbefehl und ordnet die Vollstreckung der Untersuchungshaft an. Seither ist die Leipzigerin in der JVA Chemnitz inhaftiert.

11. Januar 2021: Wieder wird das „Bull’s Eye“ in Eisenach Ziel eines Anschlags. An der Fassade detonieren Sprengsätze. Unbekannte bringen ein Graffiti an. Personen kommen diesmal nicht zu Schaden. Zu der Tat bekennen sich später linksradikale Feministinnen.

21. April 2021: Der Generalbundesanwalt erwirkt gegen Lina E. einen erweiterten Haftbefehl. Die Hoffnungen ihrer Sympathisanten auf eine baldige Freilassung zerschlagen sich. Johann G., den die Behörden mittlerweile als linksextremen Gefährder einstufen, ist noch immer untergetaucht.

Anmerkungen der Redaktion: Auffällig ist derzeit, dass vor allem der Springer Verlag („BILD“, „Welt“ etc.) offenbar Informationen über die Ermittlungen und Vorwürfe erhält, welche anderen Medien wie unserem trotz Anfragen zu bereits in diesen Medien erschienen Informationen vorenthalten bleiben. Weshalb wir uns zum jetzigen Stand für eine Art Chronik der bekanntgewordenen Verdächtigungen und Vorgeschichten entschieden haben.

Die bisherige Berichterstattung ist aktuell von sexistischen Motiven und Reduktionen auf Lina E.´s Äußeres geprägt, erste Berichte in der Boulevardpresse überheben sich mittlerweile in Vergleichen mit dem NSU, welcher kaltblütige Morde beging und dessen Verquickungen mit Strafverfolgungsbehörden und dem Verfassungsschutz bis heute ungeklärt geblieben sind.

Bei allen hier zusammengetragenen Vorwürfen handelt es sich wie stets vor Anklageerhebungen um Anhaltspunkte, Ermittleraussagen oder Verdächtigungen, welche vor einem Gericht Bestand haben und belegt werden müssen. Erst, ebenfalls immer in Fällen von Ermittlungen, nach einer Verurteilung sind Titulierungen wie „Täterin“ möglich.

Zuvor spricht man von Beschuldigten oder Tatverdächtigen. Zuletzt schrieben wir solche Hinweise, als es um den später rechtskräftig verurteilten rechtsextremen Mörder des Leipzigers Kamal K. ging.

Diese Regeln und die Unschuldsvermutung gelten für jeden Menschen bis zum Beweis des Gegenteils.

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