Es sind extrem zähe Stunden, die sich an jenem 17. März 2021 im Saal 14 des Leipziger Landgerichts abspielen. Zugleich sind sie anstrengend und zuweilen höchst turbulent. Am Ende des langen Tages wird manch Beteiligter das Gericht erschöpft mit der einen Frage im Kopf verlassen: Was geht hier eigentlich gerade vor sich?
Gewaltverbrechen an Mutter sorgte für Entsetzen
Rückblick: Seit Oktober 2020 muss sich der 31 Jahre alte Edris Z. unter anderem wegen Mordes verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann vor, seine ehemalige Freundin Myriam Z. (37) am 8. April 2020 im Leipziger Auwald mit einem Hammer angegriffen und so schwer verletzt zu haben, dass sie zwei Tage später an ihren Kopfverletzungen starb. Die junge Mutter ging gerade mit ihrem wenige Wochen alten Mädchen im Tragetuch spazieren, als der Täter sie brutal attackierte. Das Kind, das nicht vom Angeklagten stammte, blieb unversehrt. Laut Ermittlungsbehörden habe Edris Z. seine Ex-Partnerin töten wollen: „Um sie dafür zu bestrafen, dass sie bei der Polizei gegen ihn ausgesagt und Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz erwirkt hatte“, heißt es in der Anklageschrift. Edris Z. hat im Prozess auf Anraten seiner Verteidigung bisher geschwiegen.
Angeklagter soll Zeugen schon 2018 schwer verletzt haben
Der junge Mann, der an jenem Mittwoch schon zum zweiten Mal auf dem Zeugenstuhl Platz nimmt, könnte durchaus helfen, etwas Erhellendes zur Persönlichkeit des mutmaßlichen Täters Edris Z. beizutragen. Abbas A. (25) kannte Myriam Z. gut, war mit ihr befreundet. Am 20. August 2018, lange vor der tödlichen Gewalttat, gingen beide am Fockeberg spazieren, als sie von einem Mann angegangen wurden, der Myriam Z. übel beleidigt und bespuckt haben soll. Als Abbas A. einschritt, soll sich der Angreifer wütend auf ihn gestürzt, ihm unter anderem einen Teil des linken Ohres abgebissen haben. Abbas A. musste danach für eine Woche in die Klinik.
Bei seiner ersten Vernehmung im Prozess, in dem er auch Nebenkläger ist, hatte er den Angeklagten als Täter ausgemacht. Was das alles solle, könne er sich bis heute nicht erklären, sagte er. Er und Edris Z. hätten sich nicht einmal gekannt.
Verteidigung nimmt Belastungszeugen ins Visier
Nur: Um den erschütternden Vorfall selbst geht es den ganzen Tag nicht. Strafverteidiger Georg K. Rebentrost, der mit seiner Kollegin Petra Costabel die Vertretung des Angeklagten übernommen hat, nimmt den Zeugen erstaunlicherweise mit ganz anderen Fragen ins Visier: Kenne Abbas A. zwei Freundinnen des Opfers, die der Anwalt namentlich nennt? Habe er mit ihnen über das Gewaltschutzverfahren und das Annäherungsverbot gesprochen, das Myriam Z. nach dem Fockeberg-Ereignis gegen ihren Ex-Partner erwirkt hatte? Habe er mit ihnen über den aktuellen Strafprozess kommuniziert? Kenne er weitere Freundinnen und Freunde von Myriam? Wisse er von WhatsApp-Gruppen, in denen sich das Umfeld von Myriam Z. austauscht?
„Ich stelle hier die Fragen!“
Offenbar geht die Verteidigung davon aus, dass sich Zeugen möglicherweise abstimmen könnten, um ihren Mandanten zu belasten. Entsprechende Bedenken wurden mehrfach kundgetan. Aber sind sie auch plausibel?
Abbas A. jedenfalls zeigt in der Vernehmung sichtbare Schwierigkeiten, die Fragen des Strafverteidigers überhaupt nachzuvollziehen. Ja, er habe einige aus Myriams Freundeskreis vom Sehen her gekannt, sei ihnen mal zufällig auf der Straße, im Park oder am See begegnet. Wie lange die Begegnungen gedauert hätten, will der Anwalt wissen. „Ich kann doch keine Überwachungskamera auf meiner Stirn installieren“, zeigt sich der Zeuge irritiert.
Die Vernehmungssituation ufert zuweilen aus. Die Anwältin des Zeugen oder das Gericht greifen immer wieder ein, weisen den Verteidiger genervt zurecht, weil seine Fragen nicht nachvollziehbar, unzulässig, irrelevant, zigfach gestellt oder schon beantwortet seien. Abbas A. spielt mehrfach den Ball an den Verteidiger zurück, wenn er dessen Fragen nicht versteht. „Ich stelle hier die Fragen!“, keift Anwalt Rebentrost den Zeugen einmal barsch an.
Belehrungen an den Richter
Irgendwann knallt es an diesem denkwürdigen Prozesstag. Der Vorsitzende des Schwurgerichts, Hans Jagenlauf, verbirgt nicht, dass selbst er Probleme hat, den Sinn der Verteidiger-Fragen zu erkennen, wirft Anwalt Rebentrost vor, Widersprüche in der Aussage des Zeugen zu konstruieren und ihn unter Druck zu setzen. Als der Rechtsanwalt mit einem Grundsatzreferat zur Rolle des Verteidigers im Prozess und zum Recht auf Verteidigung antwortet, reicht es selbst dem erfahrenen Richter. Mit ungewöhnlicher Schärfe und Lautstärke weist er die Belehrung seitens der Verteidigerbank zurück, unterbricht dann die Verhandlung.
„Im Saal wird nicht geschrien!“
Der Konfrontationskurs geht jedoch unvermindert weiter. Rechtsanwalt Rebentrost, über den es auf der Seite seiner Kanzlei unter anderem heißt, es sei sein oberstes Anliegen, „die Einhaltung der rechtsstaatlichen Grundsätze sowie die Beschuldigtenrechte mit aller Vehemenz durchzusetzen“, echauffiert sich, die Verteidigung müsse sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Es sei „unerträglich“, dass ein Zeuge so vor einem deutschen Gericht aussagen könne. Der Verteidiger fordert das Gericht gar auf, Abbas A.s Angaben wegen des Anfangsverdachts der Falschaussage wörtlich zu protokollieren und ihn mit 250 € Ordnungsgeld zu belegen. Die Strafkammer lehnt das ab.
Immer wieder wird der Prozessverlauf gebremst. Weist der Vorsitzende eine Verteidiger-Frage an den Zeugen zurück, beanstandet Rebentrost dies, stellt der Vorsitzende seine Entscheidung darüber zurück, wird dies auch sofort wieder beanstandet. Es ist beinahe ein Ritual zwischen Schwurgericht und Verteidigung, das an jedem Verhandlungstag zu beobachten ist. Noch mehrfach geht es hitzig zur Sache. „Mäßigen Sie sich, im Saal wird nicht geschrien!“, ruft eine Beisitzende Richterin dem Verteidiger einmal empört zu.
Neue Eskalationsstufe erreicht
Nach stundenlanger Verhandlung ist klar: Die Fronten im Prozess liegen weiter gegeneinander. Anwalt Rebentrost beklagt sich, alles, was die Verteidigung tue, werde ohne Begründung zurückgewiesen. Nicht zum ersten Mal – doch die Schärfe der Auseinandersetzung hat an diesem Mittwoch eine neue Eskalationsstufe erreicht. Der Kenntniszugewinn in der Sache tendiert derweil gegen null. Manch einer mag sich da fragen, was es bringt, den Prozess immer wieder auszubremsen, und wie viel Sinn es ergibt, einen routinierten Strafrichter zu belehren, der über die Jahre schon so viele komplizierte Verfahren geführt und abgeschlossen hat.
Bereits zum dritten Mal will ihn die Verteidigung nun übrigens für befangen erklären lassen. Und zum dritten Mal wird Abbas A. in einer Woche erneut zur Zeugenbefragung antreten. Dabei habe er gerade genug mit seiner Ausbildung und anstehenden Prüfungen zu tun, sagt der junge Iraker, der seit einigen Jahren in Deutschland lebt.
Sollte der Prozess, ursprünglich mal bis Mitte Dezember 2020 geplant, in diesem Tempo weitergehen, kann er sich schlimmstenfalls über Jahre hinziehen. Allein 15–20 weitere Zeugen stehen nach LZ-Informationen noch ungehört auf der Liste.
Freund des Opfers: „Sie hatte so krass Angst vor ihm“
Auch am 24. März, dem vorerst letzten Verhandlungstag vor einer längeren Unterbrechung, stehen die Zeichen weiterhin auf Kollision. Abbas A. erscheint zum dritten Mal im Zeugenstand mit Anwältin Rita Belter an seiner Seite. Nur wenige Meter rechts von ihm sitzt völlig stumm und scheinbar unbeteiligt der Mann, der ihn so schwer verletzt haben soll – und der mutmaßliche Mörder seiner guten Freundin Myriam.
Irgendwann scheint dem 25-Jährigen Abbas A. die Selbstbeherrschung fast zu entgleiten: „Sie hatte so krass Angst vor ihm, sie hat so oft geweint“, platzt es aus dem jungen Mann heraus. „Sie hat gemeint, er bringt sie um.“ Nach dem Geschehen am Fockeberg habe Myriam nicht glauben können, was mit seinem Ohr passiert sei, erinnert sich Abbas A. Zudem habe Myriam Hundekot in ihrem Briefkasten gefunden und sei durch nächtliches Klingeln in ihrer Wohnung aufgeschreckt worden. Gesehen habe sie den Angeklagten dabei aber nie. Anders als bei direkten Begegnungen, wo er sie zweimal bespuckt haben soll.
Fragen abseits des Vorwurfs
Erneut muss Abbas A. eine Kaskade von Fragen des Verteidigers über sich ergehen lassen. Manche davon waren schon in der Vorwoche dran: Kenne er bestimmte Freundinnen der Getöteten? Habe er mal mit einem Arbeitgeber des Opfers gesprochen? Kenne er jene Freundin von Myriam Z., die den Prozess gerade im Zuschauerbereich verfolgt?
Mehrfach kommen Winks des Vorsitzenden Richters: „Ihre Fragen haben bisher den Vorwurf gegen Ihren Mandanten in keiner Weise berührt!“, weist er den Verteidiger zurecht. Der hatte zuvor jede Verantwortung von sich gewiesen. In der letzten Woche sei ihm jede zweite Frage beanstandet worden und die Nebenklagevertreterin habe sich immer eingeschaltet. Dadurch habe er sich „genötigt gefühlt, außen herum zu fragen“, sagt der Anwalt.
„Sie nehmen keine Rücksicht auf irgendwas“
Wieder fetzt er sich heftig und zuweilen laut mit dem Gericht und der Nebenklage. Mal wirft er der Kammer willkürliches Handeln vor und spricht abfällig vom „Kaspertheater“, mal unterbricht er die Ausführungen des Zeugen forsch, hier sei „nicht der Raum, irgendwelche Vorträge zu halten.“ Abbas A. hatte zuvor über die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Deutschland gesprochen – und dass er sich ein solches Verbrechen hier nie habe vorstellen können.
Die Fragen des Rechtsanwalts sind zuweilen mehr als nur grenzwertig. Als er etwa von Abbas A. wissen will, ob auch Zungenküsse zu seiner Freundschaft mit Myriam Z. gehört hätten, kommt ungläubiges Lachen von einem Zuschauerstuhl. Die Frage wird durch das Gericht als nicht zulässig abgelehnt. „Sie nehmen hier keine Rücksicht auf irgendwas!“, faucht die Zeugen-Anwältin ihren Kollegen an.
Kanzleien der Verteidiger beschmiert
Nach langen Stunden und ganzen drei Tagen ist das Zeugen-Verhör durch die Verteidigung noch immer nicht beim eigentlich interessanten Punkt angekommen, dem Geschehen am Fockeberg. Abbas A. wurde zum vierten Mal vorgeladen, diesmal für den 12. Mai. Kaum jemand scheint mehr zu verstehen, welche Strategie das Verteidiger-Team eigentlich verfolgt. Doch droht der Prozess alle Dimensionen zu sprengen, sein Ende ist völlig offen.
Zwei neue Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden Richter sind inzwischen abgelehnt, ein weiterer war durch Rechtsanwalt Rebentrost angedeutet worden, aber mit Stand 26. März (12 Uhr) noch nicht eingetroffen, wie das Landgericht auf LZ-Anfrage mitteilt.
Unterdessen haben bisher unbekannte Täter die Kanzleien der beiden Verteidiger mit Graffiti beschmiert. Der erschütternde Kriminalfall, der Mord an einer Frau und Kindsmutter, die nur 37 Jahre alt wurde – er reicht in seiner Dimension weit über das Juristische hinaus.
Lesen Sie dazu unseren Kommentar „Nicht das richtige Mittel“ auf L-IZ.de
Der Prozess vor dem Landgericht wird am 14. April fortgesetzt.
Dieser Text entstand auf Grundlage des Gerichtsberichts in der LEIPZIGER ZEITUNG 89, S. 11 (seit 26. März im Handel) und wurde hier leicht verändert und um die jüngste Entwicklung aktualisiert.
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