Als am gestrigen Mittwoch, 17. Juni, die Leipziger Ratsversammlung beendet war, atmeten zwei Themen unรผberhรถrbar nach. Zum einen der Beschluss der ersten sozialen Erhaltungssatzungen in Ostdeutschland (auรer Berlin) und eine Rede von Roland Ulbrich (AfD) im Leipziger Stadtparlament. Vor dem Hintergrund eines Linkenantrages zum Gedenken an acht konkrete rechte Morde in Leipzig hatte der Rechtsanwalt eine Rede gehalten, in welchem er die im Antrag genannten Personen unter anderem als โmoralisch hรถherstehende Edeltodesopferโ tituliert. Im Kontext seiner sonstigen รuรerungen kรถnnte es sich um eine Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener handeln. Ein Straftatbestand, รผber welchen nun ein anderer Stadtrat die Staatsanwaltschaft Leipzig informieren mรถchte.
Werden die am gestrigen Mittwoch von Roland Ulbrich im Stadtrat getรคtigten Aussagen ein Fall fรผr die Leipziger Staatsanwaltschaft? In jedem Fall wird sie prรผfen mรผssen, sollte jemand das Leipziger AfD-Mitglied fรผr seine Worte vom 17. Juni 2020 in der Kongresshalle anzeigen. Dies gab heute der Stadtrat und Rechtsanwalt Jรผrgen Kasek (B90/Die Grรผnen) via Twitter bekannt. Da heiรt es โich halte zumindest den Anfangsverdacht fรผr eine Straftat, Verunglimpfung des Andenkens Toter fรผr gegeben, nach der widerlichen AfD Rede gestern im Stadtrat Leipzig. Ergo Hinweis an die Staatsanwaltschaft geht raus.โ
Der ยง 189 des Strafgesetzbuch sieht im Falle, dass โdas Andenken eines Verstorbenen verunglimpftโ wird, eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder eine Geldstrafe vor. Dem Verdacht kann die Staatsanwaltschaft Leipzig auch ohne Hinweis nachgehen, sollte sie dies bei dem รถffentlich anschaubaren Redebeitrag Ubrichs selbst so sehen.
Ok, ich halte zumindest den Anfangsverdacht fรผr eine Straftat, Verunglimpfung des Andenkens Toter fรผr gegeben, nach der widerlichen AfD Rede gestern im Stadtrat #Leipzig. Ergo Hinweis an die Staatsanwaltschaft geht raus.
Es reicht jetzt mal.#srle #noafdโ Jรผrgen Kasek (@JKasek) June 18, 2020
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Titulierungen wie โEdeltodesopferโ auf im Linkenantrag namentlich genannte Personen beziehen, also keine Aussagen gegen unbestimmte Gruppierungen oder Unbekannte waren. Und sich der Linken-Antrag im Ganzen auf das zukรผnftige Andenken an diese konkreten acht Opfer rechtsextremer Gewalt und zwei weiterer โVerdachtsfรคlleโ in den Jahren seit 1990 in Leipzig bezieht. In seiner Mahnung, welche OB Burkhard Jung nach Ende des Redebeitrages gegen Ulbrich aussprach, ging es zudem um die durch den AfD-Stadtrat vorgenommene โHerunterrechnungโ der Leipziger Todesopfer auf Jahrzehnte und Jahre.
Indem er betonte, es handele sich also um pro Jahr โ0,33 moralisch hรถherstehende Edeltodesopferโ, versuchte Ulbrich offenkundig das Problem rechtsextremer Gewalttaten in Leipzig zu marginalisieren. Nicht strafbar, aber ein weiteres Indiz fรผr seine Haltung gegenรผber den Opfern, weshalb er auch unter dem Beifall seiner Fraktionskollegen mit der Ablehnung des Antrages der Linksfraktion schloss.
Ob sich seine Ausfรผhrungen nun zu einem Ermittlungsgegenstand fรผr die Staatsanwaltschaft eignen, wird neben der sachlichen Bewertung auch davon abhรคngen, ob die Angehรถrigen der Verstorbenen sich zu Wort melden.
Auf L-IZ-Nachfrage bestรคtigte Jรผrgen Kasek, dass er seinerseits die Staatsanwaltschaft informieren werde, auf Twitter endet seine Ankรผndigung mit dem Satz โEs reicht jetzt mal.โ Denn Roland Ulbrich ist, wie bereits FDP-Stadtrat Sven Morlok am 17. Juni 2020 im Stadtrat feststellte, nicht das erste Mal bezรผglich der Verharmlosung von rechtsextremer Gewalt auffรคllig geworden โ das Muster lautet stets, durch teils sinnfreie Gegenรผberstellungen die Taten abzuschwรคchen.
So stellte er auch am gestrigen Mittwoch Betroffene von linksextremer Gewalt den von Rechten aus rassistischen und sozialdarwinistischen Motiven Ermordeten, Totgeprรผgelten und Angezรผndeten gegenรผber (siehe Liste), obwohl es in den letzten 30 Jahren in Leipzig keinen festgestellten Mordfall mit linksextremistischem Tathintergrund gab.
Morlok hingegen bezog sich in seinem Hinweis auf den Terror am 9. Oktober 2019 in Halle/Saale, als ein rechtsextremer Gewalttรคter erst versuchte in eine voll besetzte Synagoge einzudringen, um nach dem Misslingen des Vorhabens anschlieรend wahllos auf Menschen zu schieรen. Zwei Todesopfer waren die Folge, doch Ulbrich sah in der beschossenen Synagogentรผr in einem spรคter gelรถschten Posting im Netz nur โSachbeschรคdigungโ statt eines massenhaften Mordversuches, so Morlok.
Der Antrag der Linken im Netz
Todesopfer rechter Gewalt in Leipzig seit 1990
(aus dem Antrag der Linksfraktion, welchen nach dem Ratsbeschluss vom gestrigen Tage die Stadt Leipzig zukรผnftig offiziell gedenken wird):
1. Am 24. Oktober 2010 wird der 19-jรคhrige Kamal vor dem Leipziger Hauptbahnhof von zwei Neonazis geschlagen, mit Pfefferspray angegriffen und schlieรlich mit einem Messer attackiert. Kamal Kilade stirbt wenig spรคter im Krankenhaus. Obwohl beide Tรคter der extrem rechten Szene angehรถren, sieht die Staatsanwaltschaft kein rassistisches Motiv fรผr die Tat. Das Landgericht Leipzig kam zu einem anderen Urteil und klassifizierte den Mord als rassistisch motiviert. Kamal wird als Opfer rechter Gewalt offiziell anerkannt.
2. Am 6. August 2008 wird der 59 Jahre alte wohnungslose Karl-Heinz Teichmann hinter der Oper am Schwanenteich von einem Neonazis mehrmals zusammengeschlagen. Der Tรคter kommt von einem Neonaziaufmarsch im Leipziger Osten. Am 6. September stirbt Teichmann im Krankenhaus an seinen schweren Verletzungen. Der Staatsanwalt erklรคrte in seinem Plรคdoyer, das Opfer habe nichts getan, โauรer im Park nachts zu schlafenโ. Sein Mรถrder habe den Mann โzum bloรen Objekt degradiertโ. Trotzdem wird die Tat bis heute nicht als rechtsmotiviert angesehen, obwohl sogar der Verteidiger des Tรคters dies in einem Interview so einordnete.
3. Am Abend des 4. Oktobers 2003 wird der 16-jรคhrige Thomas K. in Leipzig mit einem Messer so schwer verletzt, dass er einige Stunden spรคter in einem Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Der angeklagte Tรคter, der rechten Szene angehรถrig, รคuรert vor Gericht sein politisches Missfallen รผber sein Opfer. Erst nach zwรถlf Jahren, 2015, wird Thomas K. offiziell als Opfer rechter Gewalt anerkannt.
4. Am 4. Juli 1998 wird der portugiesische Zimmermann Nuno Lourenรงo in Leipzig/Markkleeberg (Sachsen) von einer Gruppe junger Neonazis verprรผgelt. Die Tรคter wollten auf diese Weise ihren Frust รผber die Niederlage der deutschen Mannschaft bei der laufenden WM rauslassen. Lourenรงo stirbt am 29. Dezember 1998 an den Spรคtfolgen des Angriffs. Nuno Lourenรงo wird als Opfer rechter Gewalt offiziell anerkannt.
5. Der 30-jรคhrige Asylsuchende Achmed Bachir wird am 23.10.1996 bei seiner Arbeit in einem Gemรผseladen auf der Karl-Liebknecht-Straรe erstochen. Er hatte vorher seine Kolleg/-innen vor rassistischen Beschimpfungen in Schutz genommen. Erst 2012 wird Achmed Bachir von der Landesregierung Sachsen โ infolge einer รberprรผfung bisher nicht anerkannter Todesfรคlle wegen der NSU-Selbstenttarnung โ als ein Todesopfer rechter Gewalt offiziell anerkannt.
6. In der Nacht des 8.5.1996 wird Bernd Grigol, 43 Jahre alt, in Leipzig-Wahren auf grausamste Art und Weise von Neonazis ermordet, weil sie seine Homosexualitรคt nicht akzeptieren. Der Mord wird bis heute ebenso nicht als rechtsmotivierter Mord anerkannt.
7. Am Abend des 30. Dezember 1995 verbrennt der 43-jรคhrige Horst K. in einer Straรenbahn der Linie 15 in Leipzig-Grรผnau. Verantwortlich dafรผr sind zwei junge Mรคnner, die es โcoolโ fanden, einen Schlafenden, vermeintlich Wohnungslosen, brennen zu sehen. Horst K. ist nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.
8. Am 28. Mai 1994 wird der 43-jรคhrige Klaus R. in einem Mietshaus in Leipzig-Lindenau von sechs Neonazis zu Tode geprรผgelt. Das spรคtere Opfer und die Tรคter wohnen zu diesem Zeitpunkt im selben Haus, in dem die Neonazis eine Wohnung besetzt halten. Klaus R. wird nicht als Opfer rechter Gewalt anerkannt.
Hinzu kommen zwei weiter Verdachtsfรคlle: Gerhard S., 1991 aus der Straรenbahn gestoรen, weil er sich gegen Neonazis aussprach. Gerhard Helmut B., 1995 brutal ermordet, mutmaรlich, weil er homosexuell war.
Quellen: Projekt โTodesopfer rechter Gewaltโ von Tagesspiegel und Zeit-Online und Amadeu-Antonio-Stiftung
Der Stadtrat tagt: AfD-Stadtrat Ulbrich verhรถhnt Todesopfer rechter Gewalt + Video
Der Stadtrat tagt: AfD-Stadtrat Ulbrich verhรถhnt Todesopfer rechter Gewalt + Video
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Es gibt 2 Kommentare
Deutlich รผber 82 Millionen Menschen allein in Deutschland. Er hat hier รผbrigens niemanden โverklagtโ.
Gibt es jemanden, der noch nicht von Jรผrgen Kasek verklagt wurde?