Ihren Lebensabend hat sich Erika S. (80) wohl anders vorgestellt. Statt ihn zu genießen, muss sich die Seniorin seit Mittwoch vor dem Leipziger Landgericht verantworten. Der alten Dame wird versuchter Mord an ihrem Ehemann vorgeworfen – sie selbst stellte es anders dar.
Laut Anklageschrift verabreichte Erika S. sich selbst und ihrem Ehemann Wolfgang, den sie 1958 geheiratet hatte, in der gemeinsamen Bornaer Wohnung jeweils zwanzig Schlaftabletten. Die eingenommene Menge führte jedoch nicht zum Ableben des Ehepaares. Nachbarinnen wurden rechtzeitig aufmerksam und holten Hilfe. Das alles trug sich vom 15. auf 16. Juni 2018 zu. Erika S. habe ihren Gatten heimtückisch töten wollen, so Staatsanwältin Yvonne Sada, die der Rentnerin versuchten Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vorwirft.
Vita mit Schicksalsschlägen
Erika S. schilderte zum Prozessauftakt am Mittwoch in einer ausgedehnten Erklärung ihre Lebensumstände. Die 1938 geborene Frau, die in der DDR eine Ausbildung zur Serviererin machte, hatte seit Mitte der siebziger Jahre in einer Kaufhalle gearbeitet. Stets sei sie strebsam und fleißig gewesen, doch in den neunziger Jahren kam die Zeit der Erwerbslosigkeit, die mit Depression und Selbstzweifeln einherging. Ende 2007 traf sie die Diagnose Brustkrebs – es folgten Operation und Chemotherapie. „Das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht. Ich hatte Suizidgedanken, fühlte mich nicht mehr als Frau, nicht mehr begehrenswert.“
Und auch danach schlug das Schicksal mit aller Härte zu: Ihr Mann erlitt zwischen 2015 und 2018 vier Schlaganfälle, 2016 wurde bei ihm Demenz diagnostiziert. Seine Sprech- und Lauffähigkeit ließ rapide nach, zugleich häuften sich die Wutausbrüche bei dem heute 80-Jährigen. Vom einst stattlichen Mann, den sein Umfeld als zupackend und hilfsbereit schätzte, war nichts mehr übrig.
„Ich habe nur noch funktioniert“
Die Launen und verbalen Ausfälle ihres Mannes, sein körperlicher Verfall – all das habe in ihr über Jahre das Gefühl von Hilflosigkeit und Überforderung verstärkt, sagte die Seniorin. Häufig habe er das Bett eingenässt, sich erbrochen, einmal auch mehrere Zimmer der gemeinsamen Wohnung vollgekotet. Die ganze Nacht habe sie dann mit Schrubben verbracht. Auch Selbsthilfegruppen, familiäre Unterstützung und Tagespflege hätten die Probleme nicht gelindert, ein Heim dagegen sei nicht infrage gekommen – aus finanziellen Gründen und weil er es nicht wollte. „Ich war total am Boden, habe nur noch funktioniert.“
Am Abend des 15. Juni 2018 habe sie „nur noch ans Schlussmachen“ gedacht, als Wolfgang das Bett in kurzer Zeit zweimal vollnässte. Auf ihre Ankündigung, die Tabletten nun einnehmen zu wollen, habe er ihre Hand genommen, woraufhin sie zweimal rückgefragt habe, ob er „mit ihr gehen“ wolle. Sein Nicken habe sie als Zustimmung gedeutet, ihm die Substanz gereicht. Erst am Folgetag im Krankenhaus setze ihre bewusste Erinnerung wieder ein. Durch einen Zufall waren Nachbarinnen am Morgen aufmerksam geworden und hatten die Familie verständigt. Später wurde bekannt, dass die Dosis an Tabletten nicht reichen konnte, um den Tod herbeizuführen.
Rechtliche Wertung strittig
Hinter der menschlichen Tragik des Falls dürfte sich der Prozess, für den derzeit drei Tage angesetzt sind, vor allem um die juristische Dimension drehen. Während die Staatsanwaltschaft von einem heimtückischen Mordversuch an Wolfgang S. ausgeht, will die Verteidigung diese Kategorie vom Tisch bekommen und möglichst einen Freispruch erzielen, wie Erika S.s Anwalt Hagen Karisch gegenüber L-IZ.de bestätigte.
Dies wäre denkbar, wenn das Geschehen als Beihilfe zum Suizid eingestuft wird, die nach deutschem Recht straflos ist. Inwieweit der Nachweis gelingt, dass Wolfgang S., der heute in einem Pflegeheim lebt, tatsächlich sterben wollte, bleibt abzuwarten. Angesichts von Erika S.s angestautem Überforderungsgefühl käme laut Strafverteidiger daneben eine verminderte Schuldfähigkeit in Betracht. Die betagte Dame, die derzeit auf freiem Fuß ist, könnte dann möglicherweise mit einer Bewährungsstrafe aus dem Prozess gehen. Schlimmstenfalls drohen der bisher unbescholtenen Rentnerin theoretisch bis zu 15 Jahre im Strafvollzug.
Am Mittwoch sagten mehrere Zeugen aus der Nachbarschaft und der Familie von Erika S. aus, darunter ihre Tochter (60) und ihre Enkelin (35), sowie einige Polizeibeamte. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters Hans Jagenlauf, wie sie heute zu ihrer Tat stehe, antwortete Erika S. gefasst: „Es tut mir leid. Ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Aber ich bin froh, dass es so ausgegangen ist.“
Der Prozess wird fortgesetzt.
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Es gibt 2 Kommentare
Hallo Ernst,
ich bedanke mich für Ihren Kommentar.
Die genauen Umstände der von Ihnen angesprochenen Insolvenzverschleppung kann ich nicht beurteilen. Es stimmt aber, dass es ungewöhnlich ist, einen fehlgeschlagenen erweiterten Suizid, wie er sich darstellt, tatsächlich zur Anklage zu bringen.
Allerdings ist das u.U. gerechtfertigt, wenn Anhaltspunkte vorliegen, dass sich das Opfer (in diesem Fall der demenzkranke Mann) in einem Zustand von Arg- und Wehrlosigkeit befunden hat.
Die Tragik des Falls und der Vorgeschichte bleibt davon natürlich unberührt. Nach dem heutigen zweiten Verhandlungstag bin ich aber zuversichtlich, dass die Kammer ein den besonderen Umständen angemessenes Urteil finden wird. Laut dem Gutachter gilt Frau S. als nur eingeschränkt schuldfähig und hat daher gute Chancen, mit einer sehr geringen Strafe – evtl. auch auf Bewährung – aus diesem Prozess zu gehen, zumal sie nach meinem Eindruck einen engagierten Strafverteidiger an ihrer Seite hat.
Ein Urteil könnte es in der kommenden Woche geben. Ich werde weiter über den Fall berichten und stehe bei Fragen gern zur Verfügung.
Mit besten Grüßen auch im Namen der L-IZ
Lucas Böhme
Hallo Lucas Böhme.
herzlichen Dank für diesen Beitrag, der es vermag, die leidvollen Lebensumstände der Angeklagten nachzuvollziehen.
Erneut wundert man sich über die hiesige Staatsanwaltschaft. Während bei dem einen Staatsanwalt die erwiesene Insolvenzverschleppung eines Bauunternehmers nicht zu einem Verfahren führt, obgleich 17 Bauherren geschädigt werden (angeblich läge kein öffentliches Interesse vor), wird hier eine Notlage zu einer Straftat hochstlisiert.
Natürlich ist “Biss” bei Staatsanwälte erwünscht, aber doch bitteschön gegen wirkliche Straftäter.