Äußerlich gefasst nahm Erika S. am Mittwoch ihr Urteil entgegen: Die 80-Jährige soll wegen versuchten Mordes an ihrem Ehemann ins Gefängnis. Sie hatte versucht, ihn und sich selbst mit Schlaftabletten zu töten, da sie mit der Pflege des schwer Demenzkranken überfordert war. In seiner Urteilsbegründung ging der Richter auch auf die Frage ein, warum die Kammer trotz schwieriger Umstände diese harte Entscheidung traf.

Wäre alles glattgelaufen, wäre Erika S. jetzt nicht hier. Sie wäre tot, würde vielleicht schlicht nicht mehr existieren, vielleicht wäre sie auch nur anderswo, in einer besseren Welt. Wer weiß das schon.

Doch die 80-jährige Frau und ihr einige Monate jüngerer Ehemann Wolfgang überlebten die schwere Tablettenvergiftung, deretwegen Erika S. nun vor dem Landgericht steht. Staatsanwältin Yvonne Sada wirft der Rentnerin versuchten Mord vor, weil ihr demenzkranker Gatte bei der Verabreichung der Substanz arg- und wehrlos gewesen sein soll. Sie habe ihn in der gemeinsamen Bornaer Wohnung, in der das Paar 60 Jahre lebte, am 15. Juni 2018 heimtückisch töten wollen.

Das Schicksal schlug unerbittlich zu

Erika S., eine gepflegte Dame, kommt am ersten Verhandlungstag einige Minuten zu spät, weil sie den Eingang zum Gerichtsgebäude suchen musste. Noch nie hatte sie etwas mit der Justiz zu tun. Als Angeklagte darf sie die Aussage verweigern, aber sie will reden. In einer bewegenden Erklärung schildert sie anhand gefertigter Notizen ihre Lebensumstände, assistiert von Strafverteidiger Hagen Karisch, der ihr in der bitteren Stunde der Hauptverhandlung beisteht.

Erika S. wird 1938 geboren, verlebt eine „normale Kindheit“, wie sie sagt. 1958 heiratet sie, gerade 20-jährig, ihren Wolfgang, bereits im Jahr darauf kommt eine Tochter zur Welt. Sie lernt in der DDR den Beruf der Serviererin, arbeitet ab Mitte der siebziger Jahre in einer Kaufhalle. Fleiß, Pflichterfüllung, Strebsamkeit – das sind die Eckpfeiler ihres Lebens. „Nie war ich krank, habe immer gearbeitet“, sagt sie.

Doch schon in der frühen Nachwendezeit zwingt ein Bandscheibenvorfall sie in den zeitigen Ruhestand. Ihr fehlt die Arbeit, sie entwickelt Depressionen und Suizidphantasien, weiß kaum noch etwas mit sich anzufangen. Alle Versuche, sich das Rentnerleben mit Wolfgang schön zu gestalten, nehmen ein jähes Ende, als Ende 2007 bei ihr Brustkrebs festgestellt wird. Der Diagnose folgen eine entstellende Operation und brutale Zyklen der Chemotherapie. „Das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht“, sagt Erika S. leise. „Ich habe mich nicht mehr begehrenswert gefühlt.“

Besser wird es nicht: Wolfgang S. erleidet zwischen 2015 und 2018 vier Schlaganfälle, 2016 wird zudem eine Demenz bei ihm diagnostiziert. Sein Wesen ändert sich rasant. Immer öfter rastet er aus, schimpft laut, nässt sich ein, braucht Unterstützung. Nichts ist mehr geblieben vom einst so stattlichen Mann, der als zupackend und hilfsbereit geschätzt wurde, niemals nein sagte.

Ich habe nur noch funktioniert“

Erika S. fühlt sich zunehmend ohnmächtig und überfordert. Einfachste Aufgaben wie das Abtrocknen von Geschirr oder das Kartoffeln holen aus dem Keller klappen bei Wolfgang nicht mehr. Dazu kommen seine Wutausbrüche. Hilfe der Familie und eine Tagespflege verschaffen Erika S. ab und an ein paar Stunden für sich allein, die sie mit Haushaltsarbeit verbringt. Ein Pflegeheim sei nicht infrage gekommen – aus finanziellen Gründen und weil Wolfgang S. mehr als nur einmal äußert, im Zweifel „lieber den Strick zu nehmen“ statt in einem Heim zu enden.

Erika S. schildert Episoden – wie Wolfgang bei einer Hochzeit im Familienkreis plötzlich verschwand und hilflos in der Nähe umherirrte. Wie er die halbe Wohnung vollkotete, als er unter Durchfall litt. Erika S. verbrachte dann die ganze Nacht mit Schrubben. Wie er mit seinem Rollator auf dem Marktplatz hinfiel, laut zu toben und zu schreien begann.

Erika S. kommt an ihre Grenzen. „Es wurde immer schlechter. Ich war total am Boden, habe nur noch funktioniert.“

Und morgen ist alles OK“

Am „Tag der Katastrophe“, wie sie sagt, werden simple Zahnarzttermine zum Problem, weil weder der Pflegedienst noch die Familie kurzfristig einen Transport für das Ehepaar organisieren können. Selbst ein Taxi ist in Borna nicht auf die Schnelle zu bekommen. Am Abend nässt sich Wolfgang wieder ein, zweimal in kurzer Zeit. Erika S. reicht es. Sie greift zu einer Packung Schlaftabletten. In ihrer pedantischen Art legt sie vorher Ausweise, Portemonnaie und Versicherungsunterlagen auf den Tisch, verfasst einen Abschiedsbrief an ihre Familie.

Auf ihre Ankündigung, jetzt Schluss zu machen, reagiert der im Bett liegende Wolfgang mit großen Augen, schildert Erika S. die Situation. Wortlos nimmt er laut ihrer Erinnerung die Hand seiner Frau, sie fragt zweimal zurück: „Willst du mit mir gehen?“ Sein Nicken deutet sie als Einwilligung, reicht ihm die Tabletten. „Ich dachte nur noch, einfach friedlich einschlafen und nicht mehr aufwachen. Und morgen ist alles OK.“

Rechtliche Wertung strittig

Im Gerichtssaal könnte man eine Stecknadel fallen hören, als Erika S. ihre Ausführungen beendet. Die Wucht des Geschilderten lässt niemanden kalt und wirkt weiter, als der Vorsitzende Richter Hans Jagenlauf den Faden wieder aufnimmt. „Warum sollte auch Ihr Mann sterben?“, fragt er die Angeklagte. „Ich wollte ihn nicht allein lassen.“ Doch habe er wirklich verstanden, was sie vorhatte? „Er hat mir die Hand gegeben, ich bin davon ausgegangen, dass er mit mir gehen will.“

Genau diese Frage bildet den Dreh- und Angelpunkt des dreitägigen Prozesses. Wenn Wolfgang S. tatsächlich seinen Tod wollte, wäre das Geschehen als straflose Beihilfe zum Suizid einzuordnen. Die Staatsanwaltschaft geht dagegen davon aus, dass der inzwischen 80-Jährige, der heute in einem Heim untergebracht ist, die Botschaft seiner Ehefrau überhaupt nicht realisiert hatte. Dann droht Erika S., die derzeit auf freiem Fuß ist, eine Haftstrafe wegen versuchten Mordes.

Die 1. Strafkammer unter Vorsitz von Hans Jagenlauf (M.) hatte eine schwierige Entscheidung zwischen dem menschlichen und juristischen Problemfeld zu treffen. Foto: Lucas Böhme
Die 1. Strafkammer unter Vorsitz von Hans Jagenlauf (M.) hatte eine schwierige Entscheidung zwischen dem menschlichen und juristischen Problemfeld zu treffen. Foto: Lucas Böhme

Genau deswegen spricht sie die Strafkammer schuldig und verurteilt sie nach drei Verhandlungstagen zu zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis. Ein unter den Umständen hartes Urteil. Es sei für das Gericht eine schwierige Situation gewesen, bei der man durchaus zu verschiedenen Entscheidungen hätte gelangen können, erklärt Richter Jagenlauf. So sei auch eine Bewährung, wenngleich „mit großen Bauchschmerzen“, infrage gekommen.

Doch obgleich Erika S. noch nie vor Gericht stand, ein Geständnis ablegte, Reue zeigte, wegen ihrer Depressionen und Überforderung nur als vermindert schuldfähig gilt und ohne Böswilligkeit agierte, wiegen andere Faktoren aus Sicht der Kammer schwer. Mit Vorsatz und Absicht habe Erika S. eigenmächtig über das Leben eines anderen entschieden. „Herr S. konnte die Tragweite nicht erkennen, es gab kein Einverständnis von ihm“, betont Jagenlauf. Und: „Dem Wert des Lebens kommt erhebliches Gewicht zu. Sie haben in einer schwierigen Situation eine falsche und folgenschwere Entscheidung getroffen, die zwingend geahndet werden muss“, hält er Erika S. vor.

Verteidiger will in Revision gehen

Die Kammer folgt mit ihrem Urteil der Staatsanwaltschaft. Verteidiger Hagen Karisch wollte dagegen auf eine Bewährungsstrafe wegen versuchten Totschlags in einem minderschweren Fall hinaus. Er kündigt umgehend Revision an. In seinem Plädoyer hatte der Anwalt den Anklägern einseitige und willkürliche Schlussfolgerungen vorgeworfen. „Wir sprechen über die Tragik des Lebensabends, über Krankheit, Demenz und Depression.“ Sein Fazit: „Wir können nicht über eine Frau, die jetzt 80 Jahre alt ist, so befinden, wie es bei Jüngeren der Fall wäre.“

Erika S. darf zumindest vorerst weiterhin in Freiheit bleiben – der außer Vollzug gesetzte Haftbefehl wird nun auch formell aufgehoben. Nach dem Richterspruch umarmt sie ihre Familienmitglieder, die den Prozess auf der Zuschauerbank verfolgt hatten, bleibt nach außen gefasst. In ihrem Schlusswort hatte sie zum wiederholten Male beteuert: „Ich wollte nur, dass es ihm besser geht. Es tut mir sehr leid.“ Mittlerweile besucht sie ihren Mann im Pflegeheim mehrfach in der Woche.

Übrigens wurden Erika und Wolfgang S. am Morgen nach dem Geschehen aufgefunden. Eine aufmerksame Nachbarin hatte Alarm geschlagen. Sie wurde stutzig, weil der von einer anderen Nachbarin mitgebrachte Beutel mit Brötchen vom Bäcker für die Eheleute ungewöhnlich lang am Griff der Wohnungstür hing. Ein kleines Detail am Rande, das möglicherweise Schlimmeres verhinderte. Zufall oder nicht? Wer weiß das schon.

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Versuchter Mord: Wie eine 80-jährige Seniorin auf der Anklagebank landete

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