Seit dem 11. Juni um 20:33 Uhr steht David M.s privater Hilfeaufruf bei Facebook im Netz. Darin schildert er einen รberfall am Grรผnauer Allee-Center von bis zu vier jungen Mรคnnern am Sonntag, 10. Juni ca. 17 Uhr auf sich und seine Frau; sein Kind war ebenfalls zugegen und musste es mit ansehen. Unter dem Beitrag ein Bild, offenbar von ihm selbst, zeigt M. auf einer Liege im Krankenhaus liegend und einen Aufruf, seine Geschichte zu teilen. Im Laufe der kommenden 48 Stunden durchschlรคgt das Privatposting dann die Marke von 100.000 Teilungen im Netzwerk, 13.000 User klicken auf den Meinungsbutton, nun scheint ganz Deutschland in Leipzig Grรผnau zu fahnden. Denn David M. beschreibt einen รbergriff von vier โArabernโ.
Eine Nachfrage bei der Polizei ergibt zumindest, dass die Geschichte in den erschreckenden Grundzรผgen stimmt. Schlimm genug demnach, was David M. (Name unbekannt) und seine Familie also am vergangenen Sonntagabend bei einem Radausflug in der Nรคhe des Allee-Centers erleben mussten und verstehbar die Hoffnung um Aufklรคrung eines ihrer Beschreibung nach รผblen รbergriffs. Doch schon im Aufruf selbst fallen Dinge auf, welche jede Polizeidienststelle aus sehr guten Grรผnden anders machen wรผrde.
Zumal die Leipziger Polizei am Montag oder Dienstag dieser Woche zum Vorfall aufgrund nรถtiger Ermittlungen noch nichts zu berichten hatte. Eine umgehend nach dem Eintreffen der um 17:41 Uhr vom Geschรคdigten gerufenen Beamten vor Ort eingeleitete Umgebungssuche blieb erfolglos, die kleine Familie wurde laut Polizeidirektion Leipzig erst einmal in ein Krankenhaus gefahren.
Laut David M.s Posting in seinem sonst kaum genutzten Facebookprofil vom 11. Juni kรถnnte es sich um nahezu jeden in Leipzig lebenden Menschen handeln, der eben irgendwie โAraberโ zu sein scheint. Eine Personenbeschreibung der Angreifer ist in David M.s Beitrag praktisch nicht vorhanden. Als sich seine Geschichte im Netz verbreitet, hat er noch keine detaillierte Aussage bei der Polizei machen kรถnnen, da er im Krankenhaus stationรคr betreut wird, M. selbst spricht im Posting noch von โErinnerungslรผckenโ an das Geschehen.
Seine eigentliche Aussage bei der Polizei erfolgte erst am heutigen Mittwochmorgen, 13. Juni, wie Polizeisprecher Andreas Loepki gegenรผber L-IZ.de mitteilt (siehe das Kurzinterview mit Personenbeschreibungen am Schluss). Zum Zeitpunkt des Zeugenaufrufes von David M. fehlen demnach wichtige Details, welche nun die Polizei Leipzig nur scheinbar spรคt nachliefert.
Hass und Polizeiarbeit
โTerror und Rassismus gegen Deutsche, nichts anderes ist das. Einfach Hass auf unsโ, schreibt zum Beispiel ein User beim Teilen von David M.s Beitrag, laut Eigenangabe im Profil kommt er aus Polen. Eine weitere Userin ist der Meinung, die vage Beschreibung von David M. genรผgt bereits, um zum groรen Hallali zu blasen: โFINDET DAS FEIGE VOLKโ, so ihr Aufruf. Nach etwas รผber zwei Tagen suchen nun weit รผber 100.000 Facebook-Profile in ganz Deutschland vier โAraberโ in Leipzig Grรผnau und verbreiten neben Hass das Selbstbild von David M. auf der Krankenhausliege.
Ob die Geschichte stimmt oder nicht, scheint dabei den meisten der 100.000 nicht mit David M. persรถnlich bekannten Menschen vollkommen uninteressant, denn 48 Stunden lang haben Polizei und Presse praktisch noch keine Mรถglichkeit, Licht ins Dunkel zu bringen, geschweige einen einigermaรen qualifizierten Zeugenaufruf zu starten (siehe unten dabei).

In der Zwischenzeit geschieht etwas, was David M., wie auch die Hetze der teilender User, sicher so nicht gewollt hat: die Polizei gerรคt unter Druck, Krรคfte werden gebunden. Andreas Loepki gegenรผber L-IZ.de zum Thema private Zeugenaufrufe unter anderem: โDaraus entsteht fรผr die Polizei ein deutlich hรถherer Aufwand, weil wir nicht โ routiniert โ nach der regulรคren Zeugenvernehmung mit einer PM an die รffentlichkeit gehen kรถnnen, sondern sofort und gegenรผber vielen Bรผrgern (Anfrage sinngemรคร: Sind das Fake-News und ist das Hetze?) und Medien zu einer Vielzahl einzelner Auskรผnfte gezwungen sind.โ
Wie sich die Stimmung im blauen Netzwerk unterdessen so entwickelt hat, ist vielleicht am besten daran zu sehen, dass nun David M. heute selbst einschreiten muss und mit einem Update (noch immer ohne genauere Personenbeschreibung zu den vier โArabernโ, ergรคnzt nun um โsรผdlรคndischโ) versucht gegenzusteuern. โUpdate: Erstmal herzlichen Dank fรผr das fleiรige teilen. Ich mรถchte nochmals betonen das diese Tat (vielleicht, eventuell nichts mit Flรผchtlingen zu tun hat die bei uns in Deutschland Schutz suchen). Die Tรคter haben sehr gut deutsch sprechen kรถnnen und sind ca. 25 Jahre, muskelรถs, sรผdlรคndisches Aussehen.โ
Wie jedem Opfer einer Straftat bleibt David M. und seiner Familie wohl zu wรผnschen, dass die Leipziger Polizeibeamten die Tรคter ermitteln und die Familie selbst die Sache gut verarbeiten werden kรถnnen. Ob dabei Facebook helfen wird, ist eher unwahrscheinlich.
Fraglich auch, ob sich der Zeugenaufruf, welchen die Polizeidirektion Leipzig zu einem Tรถtungsversuch am Markkleeberger Sรผdstrand des Waldsees โLauerโ (auch โWolfsseeโ genannt), am 11. Juni 2018, gegen 16:25 Uhr heute in der Presse initiierte ebenfalls bis nach Dรผsseldorf, Essen, Mรผnchen und darรผber hinaus verbreiten wird. Der Angreifer war laut Polizei ein Deutscher.
Das Kurzinterview mit Polizeisprecher Andreas Loepki inklusive Hergangsschilderung und Beschreibung der Tatverdรคchtigen
Wurde Ihnen ein Vorfall mit dem geschilderten Verlauf durch den Geschรคdigten bei der Polizei gemeldet und durch sie aufgenommen?
Der Geschรคdigte (35) wรคhlte um 17:41 Uhr den Notruf und gab an, er und seine Frau seinen soeben von vier Auslรคndern geschlagen worden; seine Frau (36) habe eine Handverletzung erlitten und er wรผrde bluten. Zudem sollten die Tรคter noch vor Ort/in der Nรคhe sein. Daraufhin wurden umgehend zwei Streifenwagen entsandt, nahmen zunรคchst nur eine Beschreibung der Tatverdรคchtigen entgegen und suchten diese โ ohne Feststellung โ im Umkreis.
Hernach verlegte eine Funkstreifenwagenbesatzung wieder zu den Geschรคdigten und lieร sich das Geschehnis berichten. Eine schriftliche Zeugenvernehmung war nicht (mehr) mรถglich, da der Mann und die Frau (in Begleitung der unverletzten 6-jรคhrigen Tochter) in ein Krankenhaus verbracht wurden.
Warum gab es bislang (Stand 12. Juni, 21 Uhr) โ aufgrund der Brutalitรคt erwartbar โ keinen Zeugenaufruf dazu (bzw. wird dieser noch erfolgen?)?
Der Sachverhalt hielt keinen Eingang in unsere tรคglichen Pressemeldungen, weil wir immer nur eine Auswahl aus etwa 80-100 Straftaten pro Tag (Tatzeitraum der letzten 24 Stunden) treffen und uns dieser Fall in Sichtung der Kurzsachverhaltsdarstellung (โDie vier unbekannten Tรคter griffen die beiden Geschรคdigten mit Schlรคgen und Tritten gemeinschaftlich an, wodurch Verletzungen in Form von Schรผrfwunden entstanden. Die Tรคter flรผchten danach unerkannt vom Tatort.โ) am Montagmorgen tatsรคchlich nicht gewichtig genug erschien.
Zudem fehlte es aufgrund der noch ausstehenden Vernehmung an hinreichend abrufbarem/dokumentiertem Inhalt zum Ablauf, der Tรคterbeschreibung etc. Fรผr eine PM war der Kenntnisstand der Pressestelle damit schlicht zu unbestimmt.
Werden Sie der Sache aufgrund des faktischen Zeugenaufrufes durch den Geschรคdigten nachgehen?
Wir wรผrden der Sache auch ohne das Facebookposting nachgehen und haben die gestrige Aufmerksamkeit der Medien genutzt, um das grundlegende Delikt einerseits zu bestรคtigen und um damit einen offiziellen Zeugenaufruf zu verknรผpfen โ z. B. hier lvz.de/Leipzig/Polizeiticker/Polizeiticker-Leipzig/In-Leipzig-Gruenau-Pruegelattacke-gegen-Familie
Kรถnnen Sie bereits mehr zum Fall und den Erkenntnissen der PD Leipzig rings um diesen รberfall sagen โ wenn ja, was?
Die Vernehmung des 35-Jรคhrigen hat heute Vormittag stattgefunden. Er gab darin an, mit seiner Frau und der Tochter per Fahrrad am Kulkwitzer See gewesen zu sein. Auf dem Rรผckweg trafen sie in der Nรคhe des Allee-Centers auf eine vierkรถpfige Gruppe, woraufhin der Geschรคdigte klingelte โ maรgeblich, weil seine Tochter noch recht unsicher ist und die Personen Platz machen sollten. Weil sie jedoch nicht zur Seite gingen, musste der Mann stoppen und fragte โ nach seiner Angabe โ hรถflich, ob sie bitte ihn und seine Tochter passieren lassen wรผrden.
Die Antwort wรคre als: โWas willst Du, Du scheiร Kanacke?โ erfolgt. Daraufhin habe er entgegnet, nur mit seiner Familie durchfahren zu wollen. Im nรคchsten Moment habe er schon einen starken Schlag gegen den Kopf erhalten und wรคre zu Boden gestรผrzt, wo weiter auf ihn eingetreten wurde. Ob sich alle vier Personen daran beteiligten, konnte er nicht sagen. Schlieรlich konnte er sich wohl wieder aufrappeln und wehrte sich, fiel aufgrund eines Tritts in den Rรผcken aber wieder zu Boden.
Seine Frau kรผmmerte sich derweil um die Tochter und den sich losgerissenen Hund, bevor sie versuchte, sich beschwichtigend zwischen ihren Mann und die Angreifer zu stellen. Doch auch sie sei attackiert worden und wรคre durch einen Tritt gestรผrzt. Letztlich konnte die kleine Familie entlang der Stuttgarter Allee weggehen, wurde aber in Hรถhe der Hausnummer 30 erneut angegriffen.
Erst als ein Zeuge laut rief: โHaut ab! Was macht ihr hier?โ, lieรen die Tรคter ab und verharrten in etwa 150 Meter Entfernung. Als sie mitbekamen, dass der Geschรคdigte telefonierte, rief ihm einer provokant zu: โJa, ruf Polizei, ich mach dich alle!โ Letztlich flรผchten alle vier Angreifer aber.
Ihre Beschreibung lautet:
โ alle etwa 18 bis 25 Jahre alt
โ der Haupttรคter war ca. 170 cm groร
โ ein Angreifer trug Vollbart, war ca. 180 cm groร und von schlanker Gestalt
โ kurze, dunkle Haare
โ drei Personen wirkten muskulรถs
โ auch ein Anwohner/Zeuge beschrieb die Angreifer ebenfalls als von โarabischem รuรerenโ
Der Geschรคdigte befand sich wohl bis zum 12. Juni in stationรคrer Behandlung und ist weiterhin krankgeschrieben.
Wie steht die PD Leipzig unabhรคngig vom aktuellen Fall zu privaten Zeugenaufrufen oder/und Fahndungen im Netz / bei Facebook und was wรผrden sie dazu raten?
Eine derartige Mitteilung โ sofern die Angaben alle der Wahrheit entsprechen โ ist nicht verwerflich und steht im Zeitalter sozialer Medien jedem frei โ ohne dass ich es befรผrworte. Daraus entsteht fรผr die Polizei ein deutlich hรถherer Aufwand, weil wir nicht โ routiniert โ nach der regulรคren Zeugenvernehmung mit einer PM an die รffentlichkeit gehen kรถnnen, sondern sofort und gegenรผber vielen Bรผrgern (Anfrage sinngemรคร: Sind das Fake-News und ist das Hetze?) und Medien zu einer Vielzahl einzelner Auskรผnfte gezwungen sind.
Besonders kritisch wรผrden wir es betrachten, wenn Geschรคdigte direkte รffentlichkeitsfahndungen (Bildmaterial der Tatverdรคchtigen) initiieren wรผrden, weil dies โ ich habe es gegenรผber der L-IZ im Interview schon einmal ausgefรผhrt โ eine direkte Obliegenheit der Strafverfolgung ist und einem Richtervorbehalt unterliegt.
Als Ratschlag kann ich nur erteilen, dass Geschรคdigte definitiv nicht auf solche Postings angewiesen sind und die รffentlichkeitsarbeit dahingehend mรถglichst der Polizei รผberlassen sollten. Nicht zuletzt setzen sie sich โ da sie keine verifizierte Quelle darstellen โ der Gefahr aus, nach der erlittenen Straftat in der รffentlichkeit auch noch als Lรผgner, Hetzer, Rassist oder dergleichen mehr verunglimpft zu werden.
Das lange Interview mit Polizeisprecher Andreas Loepki (Teil 1 von 4)
Das lange Polizei-Interview (Teil 1): Lรผckenpresse oder Wie entsteht eine Polizeinachricht?
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
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