Eins wurde nach der Sitzung des Kriminalpräventiven Rates (KPR) der Stadt zum Thema Fahrraddiebstahl am Montag, 16. Oktober, deutlich: Eigentlich weiß man über die Fahrraddiebe wenig bis nichts. „Bei Aufklärungsraten unter 10 Prozent auch nicht anders zu erwarten“, sagte Jens Galka, Leiter der Polizeidirektion Leipzig, am Dienstag zur Pressekonferenz.

Die Täter sind ja auf und davon, wenn der Fahrraddiebstahl bemerkt wird, das Fahrrad ist auch weg. Deswegen wuchern die Hypothesen: Sind es nun vor allem junge Leute, die gern Fahrräder klauen? Wird das Rad geklaut, um es zu verkloppen, oder brauchen die Täter nur selbst ein fahrbares Teil? Immerhin werden die meisten Täter ja bei Polizeikontrollen geschnappt, wenn sie mit dem geklauten Rad in die Kontrolle geraten.

Aber die meisten Thesen zerplatzen, wenn man sie genauer betrachtet, stellte Karsten Lauber, der Leiter der Geschäftsstelle des KPR fest, der die Montagssitzung mit Zahlen fütterte. Auch die Vermutung, das Fahrradklauen sei ein Sport von Jugendlichen, hält der Überprüfung nicht stand. In einer anonymen Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen e.V. tauchte der Fahrraddiebstahl unter den eingestandenen Delikten der jungen Leute erst an siebenter Stelle auf mit 4,7 Prozent der Nennungen. (Viel öfter sind Ladendiebstähle, Schwarzfahren, Sachbeschädigung, Körperverletzung und sogar Graffiti.)

In Leipzig kamen die Befrager sogar nur auf eine Quote von 2,5 Prozent.

Es ist also nicht unbedingt ein Sport junger Leute, Fahrräder zu klauen. Die Bundesregierung vermutet ja bekanntlich organisierte Banden aus Ost- und Südosteuropa. Die Polizei erwischt vor allem Kleinkriminelle, die auch mit Betäubungsmitteln und anderer Beschaffungskriminalität zu tun haben.

Aber wahrscheinlich muss man tatsächlich die Perspektive wechseln. Denn aus Tätersicht sind Fahrräder ein leicht zu transportierendes und lohnendes Diebstahlsgut, wie Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal betont. Sogar noch viel leichter zu klauen als Fernseher oder Laptops, denn man muss dafür in der Regel nirgendwo einbrechen, sondern meist nur ein Schloss knacken. Meist ein leicht zu knackendes. Denn, so Jens Galka: „Die Täter lernen dazu.“

Sie entwickeln immer ausgefeiltere Methoden, auch die besten Schlösser zu knacken.

Entwicklung der (offiziellen) Diebstahlszahlen in Leipzig. Grafik: Polizeidirektion Leipzig
Entwicklung der (offiziellen) Diebstahlszahlen in Leipzig. Grafik: Polizeidirektion Leipzig

Und da lohnt sich der Blick auf die Leipziger Diebstahlsstatistik: Alle Diebstähle, wirklich alle, haben seit 2012 deutlich zugelegt. Fahrraddiebstähle sind Teil dieser Diebstahlsstatistik. Und während die Gesamtzahl der Diebstähle von 28.482 auf 44.967 stieg, stieg anteilig die der geklauten Fahrräder von 6.067 auf 9.672. Mit Einschränkung, wie wir ja schon erwähnt haben. Ungefähr 1.000 Diebstähle, die 2015 passierten, sind statistisch mit ins Jahr 2016 gerutscht.

Aber was heißt das?

Die Zahl der Diebstähle insgesamt nahm in den vier Jahren um 58 Prozent zu, die der Fahrraddiebstähle um 59 Prozent (wenn man die 9.672 als belastbare Größe nimmt). Das heißt: Leipzig hat eigentlich nicht zentral ein Fahrraddiebstahlsproblem, sondern ein Grundproblem bei Diebstahl – oder, um das Wort zu benutzen: der Beschaffungskriminalität. Fahrräder werden nur mitgenommen, weil sie ein leicht zu erlangendes Diebesgut sind.

Und weil sie sich natürlich gewaltig vermehrt haben: Von mindestens 500.000 Fahrrädern in Leipzig geht Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal aus. Viele davon stehen – unbeaufsichtigt – im öffentlichen Raum. Und die meisten Radbesitzer haben keine Vorstellung davon, wie professionell viele Diebe mittlerweile arbeiten.

Und dazu kommt: Die Räder lassen sich leichter zu Geld machen.

Reine Psychologie.

Mit Autos ist das schon schwieriger. Deswegen ist die Zahl der geklauten Autos mit 600 bis 650 im Jahr deutlich geringer. Deutlich höher sind dann wieder die Diebstahlszahlen aus Autos: die liegen bei über 6.000. Da kommt man schon in die Region der Fahrraddiebstähle.

In dieser Region liegen auch andere Diebstahlsarten: Ladendiebstahl bei 8.000 Fällen im Jahr, Diebstähle aus Böden, Kellern, Waschküchen bei über 7.000.

Alles Zahlen, die davon erzählen, dass Leipzig ein stabiles soziales Problem hat. Worüber zu reden wäre. Aber worüber in Sachsen ja bekanntlich nicht geredet wird. Wer aber über das Milieu wenig bis nichts weiß, kann so oft präventiv zusammenhocken, wie er will – es ändert am Problem nichts. Und dann gibt es da noch die berühmte Dunkelziffer bei den Anzeigen. Jens Galka nannte am Dienstag eine von rund 50 Prozent.

Aber ganz so schlimm ist es in Leipzig nicht. Die Leipziger haben durchaus noch überdurchschnittliches Vertrauen zur Polizei, wie die „Umfrage zur Sicherheit in Leipzig 2016“ ergab. Da durften sie nämlich angeben, wie sie bestimmte kriminelle Fälle bei der Polizei melden. Und das Ergebnis: Beim Diebstahl des Fahrrads gehen 63 Prozent der Leipziger zur Polizei. Was natürlich auch heißt, dass die Diebstahlszahlen der Polizei zu niedrig sind.

Tatsächlich werden in Leipzig jedes Jahr über 10.000 Fahrräder geklaut.

Nur ein Drittel der Besitzer zeigt das gar nicht erst an. Selbst bei Wohnungseinbrüchen verzichtet ein Viertel der Betroffenen auf eine Anzeige. Die Gründe liegen meistens im Wert des Gestohlenen: Wenn der finanzielle Verlust von den Betroffenen als eher verschmerzbar eingeschätzt wird, unterlassen sie die Anzeige.

Was übrigens auch die Leipziger Fahrrad-Community bestätigt: Viele Radfahrer verzichten im Alltag auf die Nutzung eines teuren Rades, sondern nutzen einen billigen Drahtesel für 200, 300 Euro, dessen Verlust sie verschmerzen können. Was Heiko Rosenthal nicht ganz so toll findet, denn wenn viele Radfahrer auf Registrierung ihrer Räder verzichten und auch noch auf Diebstahlsanzeigen, wird natürlich Langfingern wieder der Boden bereitet. Der Druck werde nur erhöht, wenn auch jeder Diebstahl zur Anzeige käme, so Rosenthal.

Das sehen viele Leipziger sichtlich anders. Denn auch andere Bagatelldelikte melden sie nicht der Polizei. Der zeitliche und bürokratische Aufwand ist meist höher, als den Schaden zu ersetzen. Was zum Beispiel besonders bei Beschädigungen an Autos und Zweirädern deutlich wird. Das meldet praktisch nur jeder Vierte.

Dass die Fahrraddiebstähle in Leipzig so anzogen, hat also sehr viel mit der wachsenden Attraktivität der Radstadt Leipzig zu tun, mit mehr Fahrrädern im öffentlichen Raum, aber auch mit einer dauerhaft hohen sozialen Problematik.

Und natürlich auch damit, dass in einer prosperierenden Stadt auch wertvolles Diebesgut häufiger zu finden ist. Zum Beispiel teure Fahrräder von über 1.000 Euro, auf die sich die vielbeschworenen organisierten Diebesbanden spezialisiert haben.

Man ahnt schon: Da ist längst ein Wettlauf in Gang zwischen Profidieben und immer besser aufgerüsteten Radbesitzern. Und zwischendrin eine Polizei, der die Leute fehlen, um den Dieben mal richtig Druck zu machen.

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