Als Staatsanwalt Ulrich Jakob sich am 19. September 2016 im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft Dresden entscheidet, seinen „Vermerk“ zum Aktenzeichen 371 Js 98/15 zu schreiben, muss er gewusst haben, dass das noch ein öffentliches Nachspiel haben wird. Seine abgeschlossene Prüfung der Arbeit der Dresdner Staatsanwaltschaft und zweier ermittlungsführender Polizeibeamten wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ in Leipzig führt ins Nichts mit hohem Personalaufwand. Er wird die umgehende Einstellung des ausgeuferten Verfahrens samt Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) anordnen.
Bereits zuvor, am 7. September 2016, hat er den ermittlungsführenden Kriminaloberkommissar beim Operativen Abwehrzentrum angewiesen, mindestens 174 abgehörte und nun etwa seit zwei Jahren widerrechtlich gespeicherte Telefonmitschriften und abgefangene SMS von oder an Ärzte, Rechtsanwälte, Banken und Journalisten zu löschen. Am 13. Oktober 2016 meldet der Kriminalbeamte Vollzug.Heute ist klar, dass nach wie vor Kopien der Mitschnitte in Akten auftauchen. Das NDR-Magazin ZAPP meldet am 28. Juni 2017, man habe Notizen von Gesprächen mit gleich mehreren Journalisten vorliegen, auch die LZ findet nun weitere Gesprächsprotokolle und SMS-Abschriften, eine davon an einen LVZ-Redakteur.
Schon seit Mitte Dezember 2015 hat sich Staatsanwalt Jakob zum „Ermittlungsverfahren AGRA“ Stück um Stück die Akten kommen lassen. Laut Beschluss am 6. Dezember 2013 laufen Ermittlungen gegen die mutmaßliche „kriminelle Vereinigung“ im Raum Leipzig rings um die BSG Chemie. Über 40 Akten sollen es sein, mindestens 30.000 Einzelseiten, mancher vermutet – angesichts meterlanger Überwachungsprotokolle – mehr.
Nach mehrfachen Rücksprachen mit dem derzeit verantwortlichen Kriminalhauptkommissar beim Operativen Abwehrzentrum muss Jakob nun am 19.09.2016 konstatieren: „Bei der Sichtung der umfangreichen Akte stellt der Unterzeichner fest, dass sich der Akte (…) nicht ohne weiteres entnehmen lässt, welche konkreten einzelnen Straftaten – neben der Prüfung des Verdachtes der Bildung einer kriminellen Vereinigung gem. §129 StGB – Bestandteil des Verfahren sind.“
Dem Juristen ist demnach unklar, auf welcher Basis der Vorwurf letztlich fußt, 14 Leipziger hätten sich zu einer Vereinigung zusammengeschlossen, die nicht weniger vorhaben soll, als die demokratische Ordnung anzugreifen. Oder schwerste Straftaten zu begehen, die nicht unter fünf Jahren Haft nach sich ziehen würden. Und er muss feststellen, dass der Beschluss vom 6. Dezember 2013 zur Ermittlung wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ genau fünf Vorgänge ins Auge fasst, die allesamt zwar ähnlich, aber keinen Grund für einen großangelegten Lauschangriff darstellen dürften.
Ausgangspunkt der ausgedehnten Strukturermittlungen „AGRA“ wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ ist das „Impericon Festival“ am 20. April 2013 auf dem AGRA-Gelände in Leipzig. Fünf bis acht vermummte Personen verprügeln zwei Gäste des als links geltenden Festivals, weil diese „Rechte“ wären. Drei Personen kann die Polizei feststellen, sie bilden den späteren Einstiegspunkt in die Ermittlungen. Die These der Ermittler: eine Gruppe Täter hat sich abgesprochen und geht organisiert und gewaltsam gegen politisch unliebsame Personen vor. Schwerpunkt sei das Umfeld von Konzertveranstaltungen, hier einmal am Conne Island (28.10.2012), am Werk 2 (23.03.2013) und eben im April des Jahres an der AGRA.
Das erste Bindeglied soll laut der Ermittler eine Leipziger Securityfirma und die Vermummungen bei Angriffen sein. Die zwei weiteren Übergriffe passen schon zum Beginn der Ermittlungen nur mit viel Phantasie ins Raster „Veranstaltung, Security, Vermummung“. Am 26. Januar 2013 wird ein unbekannter Mann in der Connewitzer Szenekneipe „Black Label“ von mehreren anderen Unbekannten attackiert. Er selbst erstattet daraufhin keine Anzeige. Ein Zeuge meldet sich bei der Polizei – nun ist seine Aussage auf einmal Teil der bislang größten Strukturermittlung in Leipzig nach 1989.
Der fünfte Übergriff, welchen die Ermittler einbeziehen, ist der auf einen medial stadtbekannten Neonazi am 23. März 2013 auf einer Baustelle an der Brandstraße. Wieder sind es mehrere Angreifer, vermummt, doch der Tathergang ist gezielt und auf eine bestimmte bekannte Person gerichtet.
Was Jakob nachlesbar stutzen lässt
Bereits die ersten Überwachungsmaßnahmen ergeben keinen strafbaren Zusammenhang zwischen den drei gestellten Tätern von der AGRA mit anderen Überwachten aus dem Umfeld der BSG Chemie. Dennoch wandert die Ermittlung quasi von Person zu Person in die Richtung des Leutzscher Sportclubs. Auch als die erste Straftat also nicht mit der verbleibenden Gruppe der Überwachten in Verbindung zu bringen ist, wird sogar eine Ausdehnung der Überwachungen der Verbleibenden durch den fast immer gleichen Richter am Amtsgericht Dresden genehmigt.
So entfernt sich das Ermittlungsverfahren Stück um Stück weiter weg von seinem Ausgangspunkt, später fallen die anfangs Verdächtigen mangels Nachweis sogar heraus. Ein Kriminalhauptkommissar vermerkt: „Die drei Beschuldigten konnten keiner überwachten Telekommunikation zugeordnet werden. Die erlangten Ermittlungsergebnisse lassen es nicht zu, einzelnen Beschuldigten strafbare Handlungen zuzuordnen die ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung beweisen.“
Statt eine falsche Spur anzunehmen, schreibt der Ermittler die Erkenntnis dem „konspirativen Verhalten“ der drei Personen zu. Und die kriminelle Vereinigung nach Paragraph 129 sieht man nun bei der BSG Chemie.
Dieser Verdacht entsteht in einem chaotischen Prinzip, fast scheint es Zufall. Doch genau so arbeiten sich die Ermittler in Richtung eines BSG Chemie Vorstandes und eines Fanbetreuers aus dem Umfeld des gleichen Clubs vor. Mal ist es eine ähnliche Wohnadresse, mal weil man sich mit dem da bereits überwachten Vorstandsmitglied der BSG Chemie zu allgemeinen Vereinsaktivitäten bespricht.
Der BSG-Vorstand selbst ist hineingeraten, weil sein Auto in der Nähe einer der Tatorte steht. Das kann natürlich sein, der Verdächtigte lebt zu dieser Zeit in Connewitz. Andere fallen ins Raster, weil sie in der Simildenstraße wohnen, wo man umgehend eine Überwachungskamera in einem leerstehenden Haus aufbaut. Als diese entdeckt und gestohlen wird, müssen die Ermittler mitteilen, dass sie leider noch keine Ergebnisse liefern konnte. Die Diebe sind bis heute unerkannt, ein Bekennerschreiben macht die Runde.
Alles Zufall?
Als sich die letztlich 14 Beschuldigten später kennenlernen, ist es für einige von ihnen genau das – sie haben die anderen Mitbeschuldigten teilweise noch nie vorher gesehen. Aber laut einem Auswertungsbericht der Polizeidirektion Leipzig zu den ersten Überwachungen nach Rücksprachen mit dem Dresdner Staatsanwalt Ingolf Wagner am 17.11. 2014 „ergibt sich der Anfangsverdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung im Bereich der Ultra Gruppierung Diablos Leutzsch des Fußballvereins BSG Chemie Leipzig.“
Mit einem Übergriff auf der AGRA beginnend, ist man nun endgültig und fast ausschließlich bei der BSG Chemie angekommen.
Als Begründung für diese Einschätzung dienen Gründe, welche – mit anderer Wortwahl vielleicht – auf so ziemlich jede Fangruppierung eines Fußballvereins in Deutschland zutreffen dürften. Man treffe sich regelmäßig zu Plenumssitzungen an einem festen Ort, es handele sich um einen überschaubaren Personenkreis und es fänden Partys statt, bei denen man Geld für Ultra-Aktionen benutze. Während man davon ausgehen darf, dass „Ultra-Aktionen“ tatsächlich Geld kosten, wenn eine neue Choreographie im Stadion Eindruck machen soll, sind die letzten beiden Begründungen für eine noch weitergehende Überwachung noch globaler.
„Der öffentlich und in der TKÜ genutzte Sprachgebrauch weist auf eine gemeinsame Identität hin.“ Der gemeinte Spruch ist „Niemand wie wir“, vergleichbar mit „Leipzig ist blau-gelb“ bei Lokomotive Leipzig. Zudem würde man „Nazis ablehnen“ und ab und zu „Alerta, alerta“ sagen, so die Ermittlungserkenntnisse. Gewalt würde nicht abgelehnt und man habe im Zuge der Ermittlungen einiges über Straftaten der letzten Jahre erfahren. Welche das sind, bleibt unklar, Staatsanwalt Wagner jedenfalls befürworte ein weiteres Vorgehen.
Kurz gesagt: Das Raster ist wie bei wohl jeder Fußball-Fan-Gruppierung in Deutschland, es sei denn, es ist eine rassistische und rechtsradikale Vereinigung.
Daten, Daten, Daten
Um all diese Vorgänge irgendwie zu einer Gruppenaktivität immer gleicher Beteiligter zusammenzubinden, haben die Ermittler bis zur Aktensichtung durch Staatsanwalt Ulrich Jakob 56.118 Verkehrsdatensätze (SMS, Telefonate), 838 Bestandsdatensätze (Ermittlung von Anschlussinhabern), 68.925 Verkehrsdaten durch Funkzellenabfragen und unter Einsatz eines IMSI-Catchers die Abfrage der Verkehrsdaten eines Routers, Ermittlung von Mobil- und Standortdaten sowie vier Personenobservationen organisiert.
Betroffen davon sind nicht nur die 14 damals Beschuldigten, insgesamt sind mindestens 240 weitere Personen in den Akten erfasst, welche irgendwie mal mit den damals Beschuldigten in Kontakt standen. Darunter sind nach heutigem Kenntnisstand mindestens 7 Journalisten, vier sind namentlich bekannt von L-IZ, LVZ, Bild, und Vice. Abgehört wurden allein hier über 100 Telefonate und SMS, fünf weitere Telekommunikationsereignisse, die mit Journalisten geführt wurden, beziehen sich nach ersten Erkenntnissen auf FAZ, Spiegel, taz und die Bildzeitung.
Nimmt man Staatsanwalt Ulrich Jakob wohl zu Recht ernst, sollte man wohl auch seinen Vermerk vom 18. Oktober 2016 genau lesen. In diesem hält der Vertreter der sächsischen Generalstaatsanwaltschaft fest, dass es ein weiteres Verfahren gibt, welches sich aus den weitreichenden Überwachungsmaßnahmen der anfangs drei Menschen im Fall „AGRA“ aus dem „hiesigen Verfahren begründen“. So hätte man am bereits 3. August 2015 ein gesondertes Verfahren eingeleitet, welches sich erneut gegen das Umfeld der BSG-Fangruppierung „Ultra Youth“ richte.
Mit welchen Mitteln, schreibt er nicht. Man hört in Leipzig als Journalist derzeit immer öfter den Satz „Nicht am Telefon“. Es ist ein Hauch von DDR.
Der Artikel (hier auf L-IZ.de): “Nicht am Telefon (Teil 2): Bis heute wird weiter überwacht” rings um Überwachung, den “Skandal nach dem Skandal” und die Folgen in Leipzig erschien am 20. Oktober 2017 in der LEIPZIGER ZEITUNG Ausgabe 48.
Der Artikel erschien am 25.08.17 in der Ausgabe 46 der LEIPZIGER ZEITUNG. An dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser. Dieses und weitere Themen finden sich in der aktuellen LZ-Ausgabe, welche neben den normalen Leipziger Presseshops hier im Szeneverkauf zu kaufen ist. Abonnieren kann man die L-IZ.de & die LZ oder die LZ allein natürlich auch gern und damit Lokaljournalismus stärken.
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