Tino H. ist endgültig frei. Frei vom seit Juni 2012 gegen ihn schwelenden Verdacht, er habe während seiner Arbeit als Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) beim Jugendamt der Stadt Leipzig eine fahrlässigen Tötung eines 2-jährigen Kindes durch Unterlassen begangen. Nachdem der Fall durch alle möglichen Instanzen gegangen war, bestätigte heute, nach dreieinhalb Jahren Gesamtverfahren, das Oberlandesgericht Dresden den Freispruch des Landgerichtes Leipzig.

Im Kern war es bei allen Verfahren um die Frage gegangen, ob Tino H. in Ausübung seiner Obhutspflicht eine Kindeswohlgefährdung bei dem Kleinkind erkennen konnte oder nicht. Maßgeblich darum und um die Frage, ob die Drogensucht der Mutter, welche an einer Überdosis verstarb, während der 2-jährige Kieron-Marcel in der Folge neben ihr verdurstete, für ihn erkennbar war und ob er eine Entziehung des Kindes hätte veranlassen müssen.

Im Rahmen der drei Verfahren vor Amts-, Land- und nun Oberlandesgericht (OLG) war jedoch deutlich geworden, dass Tino H. seinen Pflichten nachgekommen war, auch wenn dies das Amtsgericht noch anders gesehen hatte. H.s Verteidiger Dr. Stephan Flemming konstatierte nach dem Urteilsspruch: „Das Oberlandesgericht hat damit rechtskräftig festgestellt, dass Herr H. zu keinem Zeitpunkt ihm in seiner Funktion als Sozialarbeiter der Stadt Leipzig gebotene Handlungspflichten unterlassen hat.“ Weiterhin stellte also auch das OLG fest, „dass zu keinem Zeitpunkt eine für Herrn H. erkennbare Gefährdungslage vorlag. Damit sind jegliche Zweifel an der Unschuld von Herrn H. beseitigt worden“, so Flemming im Namen seines Mandanten.

Auch das OLG begründete am heutigen Tage das Urteil nochmals deutlich: „Für den vorliegend erhobenen strafrechtlichen Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen sei allein maßgeblich, ob bei dem Jungen eine Kindeswohlgefährdung im Sinne der gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Maßstäbe vorgelegen habe, die das Jugendamt zum pflichtgemäßen Einschreiten hätte veranlassen müssen. Bei der Auslegung des Begriffs des Kindeswohls dürfe vor allem der verfassungsrechtliche Vorrang des Erziehungsrechts der Eltern (Art. 6 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz) nicht unbeachtet bleiben. Das staatliche Wächteramt beschränke sich auf die Abwehr von Gefahren für das Kindeswohl.“

Der Dreh- und Angelpunkt des Verfahrens und somit für alle Sozialarbeiter in ähnlicher Position war dabei, wie weit ein Mitarbeiter der Stadt Leipzig in die Rechte der Erziehungsberechtigten eingreifen darf. Im Kern also die Frage, genügt eine Drogenabhängigkeit der Mutter, um eine Kindesentziehung anzuordnen.

Das OLG dazu: „Eine Gefährdung des Kindeswohls im Sinne des § 1666 BGB folge nicht bereits daraus, dass die sorgeberechtigte Person drogenabhängig ist. Zwar müsse das Jugendamt grundsätzlich prüfen, ob sich die sorgeberechtigte Person infolge ihrer Abhängigkeit nicht mehr adäquat um das Kind kümmern könne. Das lediglich abstrakte Risikopotential genüge aber für die Annahme einer Gefährdung des Kindeswohls nicht.“

Weiter heißt es, eben diese nähere Prüfung sei ordnungsgemäß erfolgt. So habe „während der Zuständigkeit des Angeklagten eine gegenwärtige oder nahe bevorstehende Gefahr für das Kindeswohl niemals bestanden. Als die Mutter des Kindes sich bei dem letzten persönlichen Kontakt mit dem Angeklagten im April 2012 verabschiedet habe, um mit dem Jungen aus Leipzig wegzuziehen, sei nicht ansatzweise eine konkrete Gefährdungssituation für das Kind gegeben gewesen.“

Zudem hatte die Mutter des Kindes eine neue Lebenspartnerschaft angedeutet, was auf eine positive Entwicklung schließen ließ. Die abschließende Feststellung des Gerichtes dazu: „Anhaltspunkte für eine zu erwartende Vernachlässigung des Jungen hätten zu diesem Zeitpunkt nicht vorgelegen. Der Angeklagte habe daher nicht einschreiten müssen.“

Was dies für den komplizierten Ermessensraum zwischen der Verantwortung von Sozialarbeitern und den Erziehungsrechten betreuter Familien bedeutet, fasste Dr. Stephan Flemming am heutigen Tage nochmals zusammen: „Für meinen Mandanten und seine Familie hat dieses mehr als dreieinhalb Jahre andauernde Verfahren eine mit Worten schwer zu beschreibende Belastung dargestellt. Mit seinem freisprechenden Urteil hat das Oberlandesgericht Dresden klar zum Ausdruck gebracht, dass einer Tendenz der Strafverfolgungsbehörden, Mitarbeitern von Jugendämtern, Sozialdiensten und Trägern der freien Jugendhilfe retrospektiv überzogene strafrechtliche Verantwortlichkeiten zuzuweisen und einen nicht zu erfüllenden Sorgfaltsmaßstab auferlegen zu wollen, eine klare Absage zu erteilen ist.“

Für Tino H. quasi zu spät. Er arbeitet nicht mehr im Sozialen Dienst der Stadt Leipzig.

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