Ein Stรผck Kohle zum Heizen: 1946 der Eintritt fรผr die Erรถffnung des โTheaters der Jungen Weltโ (TdJW). Geld war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nichts wert. Gespielt wird Erich Kรคstners โEmil und die Detektiveโ im Weiรen Saal der Kongreรhalle am Zoo. Zu Beginn des Stรผckes erklรคrt der damalige Oberbรผrgermeister Erich Zeigner, dass das Theater kรผnstlerische, aber auch pรคdagogische Zwecke verfolge. Ganz nach dem Vorbild des Moskauer Kinder- und Jugendtheaters von Natalia Saz.
Am 7. November 2021 ertรถnt dann im Kleinen Saal des TdJW, das 75 Jahre nach seiner Erรถffnung nun am Lindenauer Markt zu finden ist, erneut โParole Emil! Parole Emil!โ Die Neuinszenierung des Urstรผcks von Dramaturg Jรถrn Kalbitz zeigt, wie sich Gesellschaft und Theater seit jeher verรคndert haben.
Die Lebenswelt junger Menschen ist eine andere; so flieรen digitale Elemente mit ein. Auch, dass sich Erich Kรคstner schon 1929 in seinem Roman mit einem modernen Frauenbild beschรคftigt hat, denkt die Neuinszenierung weiter und schenkt nun auch Pony Hรผtchen, in der Umsetzung Emils beste Freundin, mehr Aufmerksamkeit. Alida Bohnen (Pony) und Benjamin Vinnen (Emil) wechseln bravourรถs zwischen digitalen und analogen Szenen, zwischen musikalischer Untermalung und Schauspiel. Die Zuschauer/-innen werden in das Stรผck einbezogen, zum Lachen oder Atemanhalten gebracht โ und trotzdem wohnt der Auffรผhrung eine angenehme Leichtigkeit und Lebensfreude inne. Wie ein Appell an die Besucher/-innen, den TdJW-Intendantin Winnie Karnofka in ihrer Rede mit einem Kรคstner-Zitat zusammenfasst: โLasst euch die Kindheit nicht nehmen!โ
Mysteriรถse Projektgruppe und kuriose Fundstรผcke
Die Premiere bildet den Abschluss eines ereignisreichen TdJW-Geburtstages. Am Vormittag prรคsentiert die Projektgruppe โTheatrXโ die Ergebnisse aus mehreren Monaten Arbeit. In einer kleinen Vorfรผhrung wird die Zukunft des Theaters skizziert. Das Projekt mit Leipziger Bรผrger/-innen unterschiedlichen Alters findet im Rahmen von โLeipzig โ Stadt der sozialen Bewegungen 2021โ statt und experimentiert auf kreative Weise zur zukรผnftigen Entwicklung des TdJW und der รffnung in die Stadtgesellschaft.
Nach dem Mittag werden dann gleich zwei Ausstellungen enthรผllt. Denn nicht nur das รคlteste Kinder- und Jugendtheater Deutschlands feiert Jubilรคum โ sondern auch das hauseigene Puppenspiel. In der Ausstellung โ30 Jahre Puppentheaterโ kรถnnen eine Reihe der bekanntesten Puppen und Figuren beliebter Produktionen aus der Nรคhe beschaut werden.
Eine zweite Ausstellung mit dem Titel โ75 Jahre Theater der Jungen Weltโ wird kuratiert von Paul Kuhn. Der Inspizient und seit 35 Jahren gute Geist des Hauses fรผhrt mit amรผsanten Anekdoten, Objekten, Fotografien und kuriosen Fundstรผcken durch die Geschichte und Geschichten des TdJW.
Um 15 Uhr wird es dann ernst im Groรen Saal am Lindenauer Markt. Beim Podiumstalk โUnsere Zukunft ist jetzt!โ tauschen sich unter anderem Emily Pfeiffer (Vorsitzende des Jugendbeirates), Oskar Teufert (Sprecher des Jugendparlamentes Leipzig), Michael Klundt (Prof. fรผr Kinderpolitik) und Vicki Felthaus (Bรผrgermeisterin fรผr Jugend, Schule und Demokratie) รผber Kinderbeteiligung und aktuelle Belange von jungen Menschen aus.
Fehlende Kinderbeteiligung und Solidaritรคt
Schulen schlieรen, Inzidenzen steigen โ um das Thema Coronakrise kommt man auch auf dem Podium nicht herum. Die Gesprรคchspartner/-innen sind sich einig, dass im Vorfeld viel mehr hรคtte getan werden mรผssen; dass Deutschland bei der Digitalisierung der Schulen und der Kompetenzerweiterung der Pรคdagog/-innen geschlafen hat, wรคhrend hybrider Unterricht in anderen Lรคndern schon seit Jahren zum Alltag gehรถrt.
Wรคhrend einige โCorona als Chanceโ fรผr Bildungspolitik sehen, lassen die Podiumsgรคste kein gutes Haar an den Entscheidungstrรคgern der Bundesrepublik. Deutschland sei bei den Schulschlieรungen im EU-Vergleich sehr rabiat vorgegangen; wรผrde teilweise Bildung blockieren, um Biergรคrten und Fuรballstadien offenzuhalten, so Professor Klundt.
Jugendparlamentarier Oskar Teufert stimmt ihm zu: โKinder haben halt keine Lobby in Berlin.โ Schรผlerin Emily Pfeiffer kritisiert, dass ihre und viele weitere Schulen Innovationen wie die E-Learning-Plattform โLernSaxโ nicht mitnehmen, sondern mittlerweile wieder zu Vor-Corona-Zeiten zurรผckgekehrt sind.
Moderatorin Josepha Maschke vom TdJW macht im Anschluss ein weiteres Thema auf, das 2021 keiner mehr ignorieren kann: die Klimakrise. Laut der internationalen Studie โYoung Peopleโs Voices on Climate Anxietyโ gab ein Groรteil der befragten 16- bis 25-Jรคhrigen an, Angst vor der Zukunft und dem Leben mit dem Klimawandel zu haben.
Professor Klundt merkt an, dass diese Angst aber schon heute Realitรคt ist. UNICEF meldete, dass 250 Millionen Kinder bereits in diesem Jahr von รberschwemmungen betroffen waren, 850 Millionen von Bleivergiftung und eine Milliarde von Luftverschmutzung.

โKinderrechte sind keine Wรผnsche, sondern Vรถlkerrecht!โ
So wie junge Personen sich bei der Corona-Pandemie solidarisch zeigen mit den gefรคhrdeten รคlteren Generationen, sollten sich die Erwachsenen bei dieser existenziellen Krise mit den jungen Menschen solidarisch zeigen.
Dass Jugendbeirat und -parlament beispielsweise den Leipziger Klimanotstand durchgebracht haben, ist zwar ein starkes Zeichen fรผr Kinder- und Jugendbeteiligung, aber ein schwaches Zeichen fรผr das Krisenbewusstsein der Politik.
Beteiligung von jungen Menschen kann mit verschiedenen Formaten in jedem Alter gewรคhrleistet werden und auch politisches Mitspracherecht hรคngt nur von einer adรคquaten Bildung ab. So merkt Professor Klundt am Ende noch einmal an: โKindeswohlvorrang und Kinderrechte sind keine Wรผnsche, sondern verankertes Vรถlkerrecht!โ
Nach diesem vielfรคltigen Programm und zahlreichen Eindrรผcken werden die Besucher/-innen in einen regnerischen, kalten Lindenauer Abend entlassen. Zurรผck bleibt ein gelungenes 75-jรคhriges Jubilรคum mit Blicken in die Vergangenheit, Gegenwartstheater und Perspektiven fรผr die Zukunft.
75 Jahre Theater der Jungen Welt
7. November 1946: Erรถffnung mit Erich Kรคstners โEmil und die Detektiveโ im Weiรen Saal der Kongreรhalle am Zoo
1950/51: Eingliederung in die Stรคdtischen Theater Leipzig
1989: Der Weiรe Saal brennt aus. Das Theater der Jungen Welt findet Obdach in Schulen, Kulturhรคusern und einem Theaterzelt.
2003: Umzug in das neue Theaterhaus Leipzig am Lindenauer Markt
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