Die Erwartungen waren hoch. Sie wurden nur bedingt erfüllt. Michiel Dijkemas „Fliegender Holländer“ überzeugt vor allem durch seine starken Bilder. Musikalisch blieb der gestrige Premierenabend hörbar auf der Strecke.
„Blutrot die Segel, schwarz der Mast“, beschreibt Senta in ihrer Ballade das Schiff des bleichen Seemanns, der verflucht ist, nur alle sieben Jahre an Land gehen zu dürfen, bis ihm eine Frau Treue bis zum Tod schwört. Was in den meisten Opernhäusern, wenn überhaupt, nur angedeutet wird, erscheint in Leipzig in ganzer Pracht. Während Dalands Männer noch enthusiastisch feiern, erwacht des Holländers Geistermannschaft zum Leben, besteigt ihr Gespensterschiff, das sodann hinein in den Zuschauerraum segelt. Die Aufbauten thronen über den ersten sieben Reihen. Die Zuschauer sind begeistert, zücken ihre Smartphones, spenden Szenenapplaus.
Die Oper Leipzig hat keine Kosten und Mühen gescheut, um die Visionen des Regisseurs und Bühnenbildners Michiel Dijkema zu realisieren. Knapp drei Stunden dauert das visuell überwältigende Holländer-Spektakel. Hausherr Ulf Schirmer dirigiert im Graben die selten gespielte Endfassung mit Aktschlüssen und Pausen. Wenngleich der Intendant lauten Applaus erntet, ist sein Dirigat für Kenner des Werks gewöhnungsbedürftig. Das Blech wirkt stellenweise übersättigt. Die Pauke stampft sich behäbig-monoton durch den Abend. Die wunderbaren Holzensembles kommen dadurch nicht zur vollen Geltung. Zudem schlägt der GMD ein konservatives, beim Seemannschor gar viel zu tragendes Tempo an. Wer die Husarenritte Christian Thielemanns und Marek Janowskis schätzt, die der historischen Aufführungspraxis nahekommen, wird ein wenig enttäuscht sein.
Beim Sänger-Cast ist der Oper in den beiden Hauptpartien ein Glücksgriff gelungen. Iain Paterson (Holländer) und Christiane Libor (Senta) bilden darstellerisch wie gesanglich ein wunderbar harmonisierendes Duo. Der Wagner-Spezialist Paterson bringt die innere Zerrissenheit der Titelfigur stimmlich wie schauspielerisch zum Ausdruck. Sein Holländer ist ein Psychopath, der sich charakterlich durchweg innerhalb eines wirren Grenzbereichs zwischen Rationalität und Wahn bewegt. Senta ist an diesem Abend ausnahmsweise einmal nicht das verrückte Mädchen, das sie seit Harry Kupfers legendärer Bayreuth-Inszenierung in gefühlt jeder zweiten Inszenierung sein darf, sondern eine junge, selbstbewusste Frau mit einem starken eigenen Willen.
Dijkema, der das Werk bereits 2014 in Wiesbaden inszenierte, übt sich an einem neuen Ansatz. Kann der Holländer womöglich keine Eigenschöpfung des Genies Wagner sein, sondern ein Plagiat? Der Komponist selbst räumte anfangs ein, auf den Mythos durch Heines „Memoiren des Herrn von Schnabelewopski“ aufmerksam geworden zu sein, eine kurze Novelle, die keinesfalls zur Schullektüre zählt. Der Heine-Text zieht sich in Gestalt von Projektionen als roter Faden durch den Abend.
Die Ähnlichkeiten zu Wagners Libretto sind frappierend. Dass der Antisemit Wagner für sein erstes vollkommenes Werk ausgerechnet beim jüdischstämmigen Heine abgeschrieben hat, ist eine der Pointen der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die Erkenntnis ist keinesfalls neu und eingefleischten Wagnerianern allseits bekannt. Erwähnenswert ist noch, dass Wagner in dem Holländer ein Sinnbild für den Ahasver, den zur Wanderschaft verfluchten Ewigen Juden gesehen hat. Dijkema lässt in seiner Inszenierung Oper und Novelle miteinander verschmelzen. Als figurativer Aufhänger dient ihm der Steuermann (Dan Karlström, großartig), dessen Wuschelkopf an bildliche Darstellungen des jungen Heine erinnert.
Konzeptionell bleibt der Regisseur Dijkema dem traditionellen Erzähltheater verbunden. Visuell verortet er die Oper in ihrer Entstehungszeit. Hingucker gibt es viele, was neben dem Bühnenbild der Arbeit von Kostümdesignerin Jula Reindell und der Maske geschuldet ist. Während der Ouvertüre und zu Beginn des ersten Aktes deuten Lichteffekte, Drehbühne und Podesterie die Dynamik des heftigen Sturms an, in dem sich Dalands Schiff befindet. Randall Jakobsh lässt als gealterter Seebär mit Rauschbart keine Wünsche offen. Der Holländer wird zusammen mit drei großen Pottwalen ans Land gespült (besser gesagt: auf der Drehbühne hereingefahren).
Im zweiten Aufzug bildet eine gigantische Spinnmaschine den Hingucker schlechthin. Dijkema komponiert eine Fülle an sich aneinanderreihenden Tableaus. Die Figurenführung ist schlüssig. Die Auf- und Abgänge des im Übrigen herausragenden Chores verlaufen flüssig und wirken keinesfalls gekünstelt. Karin Lovelius gibt mit Augenklappe und Rohrstock eine strenge Mary, an der es auch gesanglich nichts auszusetzen gibt. Enttäuschend ist dagegen Ladislav Elgr, dessen Erik matt und verschnupft klingt.
Trotz der musikalischen Schwächen wird diese Produktion ein Erfolg werden. Schon der starken Bilder wegen. Was der Inszenierung (wie den allermeisten Leipziger Produktionen) fehlt, ist die Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen der Gegenwart. Dass seit der Intendanz Ulf Schirmers bevorzugt plüschige Opernabende produziert werden, ist dem Publikum bekannt. Insofern war nicht damit zu rechnen, dass der Holländer in Gestalt eines Unternehmers, Rockers oder millionenschweren Wohltäters erscheinen wird. Ob sich das Flaggschiff der Leipziger Hochkultur in Zukunft wieder zu den ersten Adressen der deutschen Opernrepublik zählen darf, entscheidet derzeit eine Auswahlkommission. Schirmers Intendanz endet im Sommer 2022. Bis dahin werden sich alle Wagner-Opern im Repertoire des Hauses befinden.
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