Der kleine Saal des TdJW ist restlos gefüllt. Die Zuschauer schauen gespannt um sich. Sie versuchen das Bühnenbild zu erkennen, das lediglich drei Lichtsäulen in grellem Rot beinhaltet. Zumindest auf den ersten Blick. Ein abrupter Lichtwechsel, im Verlauf ein greller Lichtspot, verfolgt den Weg eines jungen Mädchens, das von der Galerie aus die Bühne betritt. Sie trägt eine Topfpflanze, platziert sie im Raum, ist unzufrieden und verändert deren Position. Immer und immer wieder.

Ein Tänzer, Lukas Steltner, beginnt zu tanzen. Er wiederholt seine Schritte. Immer wieder und immer schneller. Lih Qun Wong beginnt auf ihrem Cello eine Melodie zu spielen, die sich schwer über die Zuschauer und das Geschehen auf der Bühne legt. Auch sie spielt immer wieder dieselbe Musik und wird immer schneller, bis plötzliche Stille herrscht.

Mit „Dolores (Schmerz)“ zeigt Regisseur Hong Nguyen Thai im Theater der Jungen Welt ein Stück, das seinem Titel mehr als gerecht wird. Eine junge Frau (Linda Ghandour) leidet unter einer Störung der Emotionsregulation, auch Borderline-Persönlichkeitsstörung genannt. Sie bestreitet ihr Leben, wird aber immer dicht von ihrer Erkrankung verfolgt. Gefühlschaos, das durch Thais Choreografie und Wongs Komposition verstärkt wird, bringt diese junge Frau fast um den Verstand.

Aber gleichzeitig ist da auch diese Innigkeit und dieses Zusammengehören zwischen Erkranktem und Erkrankung, das Ghandour und Steltner durch eine fast schon poetische Ästhetik in ihrem Tanz darstellen. Man vergisst stellenweise, um welchen Inhalt es sich hinter leicht gedrehten Pirouetten und dicht verschlungenen Körpern handelt.

Foto: Tom Schulze
Foto: Tom Schulze

Rausgerissen aus seiner ästhetischen Blase wird der Zuschauer durch grelle Lichtwechsel, schnelles Umbauen der Bühnenelemente oder durch Stille, die so drückend wie Blei auf sie einwirkt. Im Verlauf des Stückes kommt dem Wort „Schmerz“ eine immense Bedeutung zu, denn Ghandour kämpft. Sie kämpft mit sich und ihrer Erkrankung, dem zweiten Menschen, der in ihr wohnt und mit dem sie immer verbunden sein wird.

Sie kämpft gegen Momente der exorbitanten Glückseligkeit an, die dicht gefolgt von einer schier nie enden wollenden Traurigkeit abgelöst werden. Sie lacht so schrill und verrückt, dass einige Zuschauer in ihr Lachen mit einfallen. Sie weint so verzweifelt, dass es den Zuschauer selber schmerzt. Und sie entschuldigt sich. Für diesen Ausfall, für diese Emotionen und letztlich für sich selber.

45 Minuten lang schaut man gespannt Ghandour, Steltner und Wong zu. Man lauscht dem Cello, dem Klavier oder Zitaten preisgekrönter Literaten wie Virginia Woolf und Jodi Picoult. Man ist fasziniert von dem Kameraspiel, das Steltner betreibt und in das er die Zuschauer mit einbindet und sie sich selbst aussetzt. Groß auf der Leinwand und für alle anderen sichtbar. Mit Beklemmung liest man die von Ghandour auf den Boden geschriebenen Worte oder ihre Abschlussrede, denn enden tut dieses Stück weder poetisch noch glücksvoll.

Obwohl „Dolores (Schmerz)“ kein Stück ist, das im klassischen Sinne unterhält, ist es von so großer Bedeutung und Kraft, dass man den Besuch jedem Menschen ans Herz legen möchte. Thai leistet auf eine besondere Art und Weise Aufklärungsarbeit über das Leben als Borderline-Erkrankter. Ohne Schnickschnack, sondern authentisch und tiefgründig, zeigt er die Gefühlswelt eines erkrankten Menschen.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche bleibt für die Augen unsichtbar“, zitiert Wong Antoine de Saint-Exupéry im Stück. Vielleicht ist genau das die lehrreichste Erkenntnis, die der Zuschauer aus diesem Abend mitnehmen darf: Dass man Menschen nicht hinter den Kopf schauen kann und sich deshalb einfach mal demaskieren soll, um darüber zu sprechen, warum wir uns so verhalten und um zu sehen, dass es auch anderen so geht wie uns selbst.

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