Verglichen mit jener sonderbaren Schauspielära, die vor fünf Jahren Leipzig geradezu lähmte, ist das, was derzeit auf kleinen und großen Bühnen passiert, eine sehr intensive Beschäftigung mit den tatsächlichen Verwerfungen der Zeit. Dazu braucht man kein Schweineblut, sondern nur eine große Kenntnis der Weltliteratur. Denn alles, was uns ängstigt, wurde schon von genialen Autorinnen und Autoren erkundet. Zeit für Frankenstein und sein Monster.

Oder um die Annäherung des “Westflügel Leipzig” an den Stoff zu zitieren: “Publikationen über künstliche Intelligenz überschwemmen den Zeitschriften- und Buchmarkt, Wissenschaftler in vielen Ländern arbeiten an ihr, über ihre Risiken und Gefahren wird heftig und kontrovers diskutiert. Einhelligkeit scheint nur darin zu herrschen, dass 200 Jahre nach der Niederschrift von Mary Shelleys ‘Frankenstein’ aus einer Utopie (oder Dystopie, je nach Einschätzung) längst eine konkrete Vision geworden ist.”

Das Problem ist genau dasselbe, wie es Mary Wollstonecraft Shelley 1818 in ” Frankenstein oder Der moderne Prometheus” beschrieb: Da ist ein genialer Forscher namens Frankenstein, der einen Weg gefunden hat, ein künstliches Lebewesen zu schaffen. Berauscht vom Machbarkeitswahn aber hat er nicht einen Gedanken daran verschwendet, ob er das Geschöpf seiner Forschung kontrollieren kann oder gar, ob es einen sinnvollen Platz in der Welt finden kann.

Ursprünglich war das Ganze ja mal eine Idee unter lauter Romantikerfreunden, die sich in Lord Byrons Kaminzimmer Schauergeschichten vorlasen und dann beschlossen, selbst welche zu schreiben. Wobei gerade Mary Shelley augenscheinlich die am wenigsten Romantische in der Runde war und ein Problem in eine Fabel verpackte, das damals erst die sensibelsten Autoren bewegte – eine Type wie den Geheimrat Goethe in Weimar zum Beispiel (“Faust, der Tragödie zweiter Teil”) oder E.T.A. Hoffman in Berlin (“Meister Floh”): Wie beherrschen wir eigentlich all die Dinge, die wir mit Technik und Wissenschaft in der Lage sind zu schaffen? Oder werden sie zur Bedrohung für uns?

Ein Thema, über das auch die Schöpfer dessen, was heutzutage als “Künstliche Intelliganz” (KI) angepriesen wird, nicht allzu gern und öffentlich nachdenken. Eher scheinen sie regelrecht davon geblendet zu sein, einen Weg gefunden zu haben, selbst menschliches Denken und Fühlen durch Algorithmen duplizieren zu können und damit quasi menschlich handelnde Automaten bauen zu können, die auch noch lernfähig sind. Und gleichzeitig versuchen sie diese KI überall einzubauen, wo sie neue Geschäftsfelder für ihre selbstlernenden Denkmaschinen sehen – in fahrerlose Autos, in die Steuerung sozialer Netzwerke, in interaktive Lautsprecher und diverse Dispatcher-Zentralen.

Wird die Welt also bald von lauter Maschinen besiedelt, die die Anwesenheit von Menschen völlig überflüssig machen? Schon das ja ein Gedanke, der die ganze technokratische Ignoranz dieser Entwicklung sichtbar macht.

Der Westflügel Leipzig lenkt mit seiner neuen Premiere “Frankenstein oder Der moderne Prometheus” den Blick nicht nur auf das zwiespältige “Schöpfertum” des Menschen und seine mitunter euphorischen Versuche in Technik und Wissenschaft, sondern nimmt auch einen “blinden Fleck” ins Visier, den der Horror vor Frankensteins Geschöpf von Anfang an beinahe zu überdecken schien.

Der besondere “Frankenstein” im Westflügel: Eine Gesellschaft unter Strom – der Mythos vom kreativen Menschen – eine Geschichte der Hybris. Getrieben von der Leidenschaft am Experiment, der Lust am gemeinsamen Spiel und von Berufs wegen gewohnt, tote Materie zum Leben zu erwecken, wagen vier FigurenspielerInnen und zwei MusikerInnen aus drei Generationen mit Alchemie, Magie und Elektrizität das riskante Unterfangen der Verschmelzung. Sie amalgamieren sechs künstlerische Herangehensweisen an einen Stoff, der die Menschen mit sanftem Grusel bewegt, seit ihn die britische Autorin Mary Shelley 1816 am Genfer See ersann.

Durch die Jahrhunderte dient die Erschaffung des Monsters als romantische Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Sehnsüchte und Ängste, Fragen nach Beherrschung, Demut und Verantwortungslosigkeit. Dazu erklingt eine himmlisch infernalische, schillernd vielgestaltige Musik, die – akustisch und mit Strom nicht nur von den beiden MusikerInnen erzeugt – das Labor zum Brodeln bringt.

Die Produktion wird beratend unterstützt durch den Lehrstuhl für Angewandte Physik der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).

Premiere für diese Neuinszenierung ist am Donnerstag, 4. Mai, um 21 Uhr im Westflügel Leipzig.

“Frankenstein oder Der moderne Prometheus” nach dem Roman von Mary Shelley von Figurentheater Wilde & Vogel (Leipzig) und Johannes Frisch (Karlsruhe) in Koproduktion mit dem FITZ! Stuttgart und dem Westflügel Leipzig. Regie: Hendrik Mannes.

Weitere Aufführungstermine von “Frankenstein” am Westflügel Leipzig (Hähnelstraße 27):

Feitag, 5. Mai, Samstag, 6. Mai, Donnerstag, 11. Mai, Freitag, 12.Mai und Samstag, 13. Mai, jeweils 21 Uhr.

Karten: 12,- / 8,- Euro ermäßigt, Reservierungen: Tel. (0341) 260 90 06 (Mailbox) oder Mail: service@westfluegel.de

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar