Schaum ist eine weiße Masse. Eine flüchtige Materie, die sich durch Zerplatzen ihrer Bläschen in Flüssigkeit auflöst. In Philipp Preuss’ Inszenierung des Ibsen-Klassikers „Peer Gynt“ gibt es jede Menge davon. L-IZ.de hat die Premiere am Samstag besucht.
Preuss’ „Peer Gynt“ verlangt dem Zuschauer viel Ausdauer ab. Zweieinhalb Stunden dauert der Abend. Ohne Pause. Aber mit vielen Monologen. Der Regisseur vertraut auf die Wirkungsmacht des „dramatischen Gedichts“ in der Nachdichtung des Spätromantikers Christian Morgenstern.
Einen „Gynt“ aus dem Reclam-Heft bekommt der Zuschauer dennoch nicht zu sehen. Preuss zählt zu jener Generation postdramatischer Regisseure, die die erzählte Handlung, also die Fabel, szenisch hinter eine tiefere Sinndeutung des Textes zurückstellen. Alle sieben Schauspieler spielen an diesem Abend Peer Gynt. Oder doch nicht? Dramaturgin Christin Ihle sinniert im Programmheft von der Unmöglichkeit, Peer Gynt zu sein. Wie soll man auch einen Traumtänzer spielen, der in Ibsens sprachgewaltigem Monumentalwerk kreuz und quer durch die Welt reist, um schließlich ganz am Schluss von seiner großen Liebe Solvejg gerettet zu werden?
Ganz zu Beginn der Aufführung, noch während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen, öffnet und schließt fortwährend ein weißer Gardinenvorhang den Bühnenraum. Dazu musiziert Komponist Kornelius Heidebrecht auf dem Klavier. Plötzlich steht er da: Peer Gynt (Felix Axel Preißler). Bedächtig schreitet Gynt weit in den Zuschauerraum hinein. Ausstatterin Ramallah Aubrecht hat eigens zwei Stuhlreihen entfernen lassen, um Gynt eine große Vorderbühne zu bauen. Aus dem Off brandet Applaus auf. Gynt genießt die Jubelorgie, während das Saallicht langsam hinabgedimmt wird. Nach und nach treten fünf weitere Peer Gynts auf und beteiligen sich an dem grotesken Spiel. Als der Zuschauerraum völlig abgedunkelt ist, ergießt sich ein mächtiger Schwall weißen Theaterschaums über die Drehbühne. Wie ein großer Eisberg füllt der Schaum die Bühne, als Felix Axel Preißler den ersten Gynt-Monolog aufzusagen beginnt.
Weit kommt er nicht. Denn von der Seite tappst Dieter Jaßlauk als Gynts Mutter Aase auf die Bühne. „Peer, du lügst.“ Der erste Akt beginnt. Zumindest, was den Text betrifft. Szenisch löst sich Preuss rasch von der äußeren Handlung. Sein erzählerischer Fokus liegt auf der Deutung von Gynts Abenteuern als (Alp-)Träume. Hierbei bedient sich der Hausregisseur jenes Repertoires an Stilmitteln, das den Leipzigern schon aus dem „Sommernachtstraum“ bekannt ist: Live-Videos aus dem Innern des abgedunkelten Bühnenbilds, Luftballons, Klamauk, schwarzer Humor und viel Musik. Kornelius Heidebrecht musiziert live auf der Bühne. Die Sängerinnen Fanny Lustaud, Amanda Martikainen und Joanne D‘Mello interpretieren aus dem Zuschauerraum heraus mehrmals eine geheimnisvoll-betörend klingende Bearbeitung von The Cures „Lovesong“. Eine Reminiszenz an die norwegischen Trollwelten, in die sich Gynt hinein halluziniert, von denen in dieser Inszenierung ansonsten allerdings jede Spur fehlt.
Was fehlt, sind viele der Nebenfiguren. Ihre Texte hat Preuss entweder gestrichen oder Charakteren übergestülpt, die sich Ibsen in dieser Erscheinungsform sicher nicht erträumt hätte. Keine Ingrid. Keine Solvejg. Statt mit der Fabel arbeitet Preuss vornehmlich mit assoziativen Bildern. Vieles gibt es an diesem Abend zu bestaunen. Zum Beispiel: Fünf Mafiosi sinnieren in einer Limousine bei Sekt, Zigarren und Koks eine gefühlte Ewigkeit über Leben und Tod. Währenddessen bildet ein Plüschgorilla auf der Vorderbühne mit schwebenden Ballons den Schriftzug „Revolution“. Das „R“ verschwindet. „Evolution“ bleibt. Weitere Gorillas tauchen auf, schlagen einen Artgenossen tot. Einer der Mafiosi erschießt seine Gesprächspartner mit dem Maschinengewehr. Irgendwann, zwischendrin wieder „The Cure“. Preuss steigert sich in einen Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt.
Die provokanten Bilder verfehlen ihre Wirkung nicht. Nach einer guten Stunde verlassen die ersten Zuschauer den Saal. Beim Schlussapplaus muss sich das Regieteam neben einer Handvoll Bravos einige Buhs gefallen lassen. Der Abend hätte gut und gerne eine halbe Stunde kürzer ausfallen können, ohne dabei an Wirkung einzubüßen. Preuss’ „Peer Gynt“ ist ein Abend für starke Charakterdarsteller. Dieter Jaßlauk karikiert Mutter Aase. Zum Totlachen komisch. Im Schlussbild spielt er sodann den greisen Gynt, der mit einem Anflug von kindlicher Naivität mit dem Knopfgießer über den Zeitpunkt seines Todes verhandelt. Der 82-Jährige erntet zu Recht lautstarken Beifall. Weiterhin stechen aus der insgesamt überzeugenden Darstellerriege Felix Axel Preißler und Andreas Keller besonders hervor.
Unter dem Strich legt Philipp Preuss eine spannende Neudeutung des populären Klassikers vor, die ob ihrer Grenzüberschreitung von Traum und Realität, Leben und Tod überregionale Beachtung verdient. Ob sein (alp-)traumhafter Blick auf Ibsens „dramatisches Gedicht“ bei Kritik und (Fach-)Publikum für Furore sorgen wird, wird sich noch herausstellen.
Schauspiel Leipzig
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