Halles neuer Opernintendant hat an der Saale zum Spielzeitauftakt "Der fliegende Holländer" inszeniert. Florian Lutz verortet die romantische Oper in der ostdeutschen Lebenswirklichkeit des Publikums. Ein aufregendes Experiment, das einen Ausflug in Leipzigs Nachbarstadt wert ist.
Fährt man dieser Tage mit der Straßenbahn vom Hallenser Hauptbahnhof zum Opernhaus, kann man das überdimensionale Plakat nicht übersehen, das eine Plattenbaufassade ziert. Alles brennt. Oper Halle. Daneben zwei Fotos. Das eine zeigt einen Afrikaner, der offenbar in tiefster Armut lebt. Das andere brennende Barrikaden irgendwo in Europa.
Die Welt ist in Aufruhr. Und Florian Lutz, seit dieser Spielzeit Intendant der Oper Halle, möchte die Konflikte dieser Welt im Hallenser Musiktheater thematisieren. Während die Leipziger Oper seither in der mittelmäßigen Beliebigkeit verharrt und – für ein Haus dieser Größe – höchst selten überregional für Furore sorgt, könnte ihr Hallenser Pendant trotz schmalerem Budget just auf dem Weg zu einem kleinen Opernwunder sein. „Der Fliegende Holländer“ ist zumindest sogar eine weite Anreise wert.
Richard Wagner sah in dem ziellos umherirrenden Seemann den Prototypen des Ahasver, des ewigen Juden, der verflucht durch die Welt irrt und Erlösung nur im Tod finden kann. Lässt man einmal die antisemitische Komponente außen vor, ergibt sich ein Deutungsansatz, der den namenlosen Seefahrer als eine Metapher für eine antimaterialistische Welt erscheinen lässt.
Das Schiff des Holländers ist reich beladen an Schätzen und doch sucht er sein Heil in der (erlösenden) Liebe zu einer Frau. Der Handelsreisende Daland nimmt bei dieser Interpretation die Rolle des Musterkapitalisten ein, der skrupellos und leichtfertig seine Tochter Senta gegen den Reichtum dieser (materialistischen) Welt eintauscht.
Florian Lutz greift die kapitalismuskritische Werkinterpretation auf, die auf Wagners Schrift „Mittheilung an meine Freunde“ zurückgeht, und verlagert die Handlung in eine Spielwiese (ost-)deutscher Lebenswirklichkeit im Jahr 2016. Daland (Vladislav Solodyagin) erscheint dem Publikum als kapitalistischer Unternehmer in Nadelstreifen, der von dem Steuermann (Robert Sellier) handlangerisch bei Abwicklung seiner Geschäfte unterstützt wird. Der Holländer (Heiko Trinsinger) ist der kontrastierende Prototyp des „Gutmenschen“ (Nazijargon!), ein guter Mensch, der in altruistischer Weise nur Gutes tut.
Lutz bedient sich eines (für Opernverhältnisse) innovativen Raumbühnenkonzepts. Die Zuschauer werden vor Vorstellungsbeginn mit verbundenen Augen in den offenen Bühnenraum geführt, der sich von der Hinterbühne am Orchestergraben vorbei bis zum 1. Rang erstreckt. Kaum ist die Ouvertüre verklungen und die Zuschauer haben die ausgegebenen Augenbinden abgesetzt, sind sie mittendrin in der Inszenierung. Von der rechten Seitenbühne tritt ein Flüchtlingschor auf. Die Schutzsuchenden werden hinter Zäunen und Stacheldraht von der westlichen Gesellschaft ausgegrenzt.
Während sich die verdutzen bis entsetzten Operngänger irgendwo in den Weiten der Raumbühne Heterotopia einen Platz suchen (es herrscht freie Platzwahl), klagt Dalands Steuermann von der andauernden Flaute und sehnt bessere Zeiten herbei. Ach lieber Südwind, blas noch mehr. Mein Mädel verlangt nach mir. Auf den Videowalls und Fernsehern, die im gesamten Bühnenbild und im 1. Rang platziert sind, erscheinen Aufnahmen von Erwerbslosen, die gegen Hartz 4 demonstrieren und im Jobcenter auf die Bearbeitung ihrer Anträge warten.
Hoffnung verbreitet der Holländer, der sich den Ärmsten der Armen widmet und die Geflüchteten mit Smartphones beschenkt. Sein Profil in einem sozialen Netzwerk, das auf der Videowand zu sehen ist, wird von positiven Kommentaren überschwemmt, während er, erst zaghaft, dann mit trotzigem Tonfall und schließlich explosiv, dem Publikum sein Schicksal klagt. Die Frist ist um, und abermals verstrichen sind sieben Jahr’. Voll Überdruß wirft mich das Meer ans Land.
Daland und der Holländer schließen einen Deal. Der Geschäftsmann wird noch reicher als er ohnehin schon ist. Der Holländer darf um Sentas Hand anhalten. Und die Geflüchteten, die sich dem Holländer angeschlossen haben, erhalten ein Bleiberecht? Während die Arbeiter, Chorsänger und Zuschauer mit gelben Warnwesten und Arbeitsschutzhelmen den Bereich des Saals bevölkern, der normalerweise die Bühne ist, halten sich ihre Frauen in einem Dreigeschosser an der Bühnenrückseite auf. Hier verrichten die Hausfrauen, alle gekleidet mit Herzchen-Schürzen, in gutbürgerlicher Manier ihre täglichen Arbeiten.
Nur Senta, eine junge Frau mit Dreadlocks und ausgewaschenen Jeans, rebelliert gegen die sozialen Zwänge der Wohlstandsgesellschaft des gehobenen Mittelstands. Dalands Tochter bewundert den Holländer. Mit ihrem zarten, betörenden Sopran singt Dorothea Herbert, eingetaucht in kaltem Bühnenlicht, mit trotzigen Untertönen die Holländer-Ballade.
Erik (Ralph Ertel) würde Senta gerne für sich gewinnen. Doch gegen den Holländer hat der Mann, der mit seinen blondierten Haaren, räudigem Hals-Tattoo und seiner olivgrünen Bomberjacke zweifelsfrei der sozialen Unterschicht zuzuordnen ist, natürlich keine Chance. Kaum hat Daland seiner Tochter mittels Videochat von der Ankunft des Fremden berichtet, landet das Paar auch schon nackig im Bett.
Höhepunkt der Inszenierung ist der mächtige Seemannschor Anfang des dritten Akts. Steuermann lass die Wacht. Steuermann her zu uns. Daland lädt seine Belegschaft zum Volksfest, um den erfolgreichen Abschluss mit dem Holländer und die Verlobung seiner Tochter zu feiern. Der Steuermann schenkt Bier aus und serviert Bratwürste. Alle dürfen mitfeiern. Frauen, Männer, Zuschauer.
Nur die Geflüchteten bleiben außen vor. Die fröhliche Stimmung kippt rasch. Gespenster sind’s, singen die Frauen und meinen die Fremden. Vor denen muss man Angst haben. Angeführt von Erik greifen die Männer das Asyllager an. Gegenstände fliegen. Rauch steigt auf. Auf den Videowalls sind die verstörenden Bilder von brennenden Asylheimen und den Gewaltexzessen in Heidenau, Clausnitz und Freital zu sehen. Mitteldeutschland im Jahr 2016. Wie die Geschichte bei Florian Lutz endet, sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel. Die Erlösung von Holländer und Senta fällt aus. Der Abend folgt nämlich der Urfassung von 1843, die die Himmelfahrt des Liebespaares noch nicht enthält.
Das Premierenpublikum sorgte am Freitag trotz des überraschenden Regieansatzes für keinerlei Eklats. Beim Schlussapplaus waren so gut wie keine Buhs zu vernehmen. Gleichwohl sorgte der Abend auf den Fluren für kontroversen Gesprächsstoff. Bei aller Provokation gegenüber dem erzkonservativen Wagner-Establishment, das den Abend gewiss verteufeln wird, steht für das künstlerische Team der sozialkritische Diskurs im Vordergrund.
Die starke Einbindung des Publikums ist Vorteil und Nachteil zugleich. Als Operngänger ist man für gewöhnlich nicht so nah an den Mitwirkenden wie an diesem Abend. Wagners vollkommener Klang bleibt dabei allerdings auf der Strecke. Wer ein klinisch reines Klangbild sucht, kann in Halle schlichtweg nicht fündig werden.
Bei allen Bemühungen von Generalmusikdirektor Josep Caballé-Domenech verschluckt die Raumbühne mit ihren vielen Nebengeräuschen und ihrer mangelhaften Akustik zwangsläufig den narkotisierenden Zauber von Wagners Musik. Die musikalischen Schwächen der hochgradig spannenden Opernperformance erscheint angesichts der politischen Message des radikalen Opernabends zwar tendenziell nebensächlich, sollten aber nicht unerwähnt bleiben.
Oper Halle
Der fliegende Holländer
Richard Wagner
Nächste Termine: 28. & 30. September, 8. Oktober, jeweils 19:30 Uhr
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