In seinem autobiografischen Roman „89/90“ beschreibt Peter Richter, wie er als Jugendlicher die politische Wende in Dresden erlebt hat. Hausregisseurin Claudia Bauer hat die Erzählung für die Große Bühne des Schauspiels adaptiert. Das Resultat ist eine freakige Ost-Komödie, die einen Theaterbesuch wert ist.

Am Anfang war der Text. Claudia Bauer und Dramaturg Matthias Huber hatten aus den 400-Romanseiten eine Spielfassung zu formen. Gar nicht so leicht, bedenkt man, dass Richter aus der Ich-Perspektive erzählt. Bauer und Huber bedienten sich eines Kniffs. Die Inszenierung beruht auf dem Gedanken zweier Theater-Räume – einer Spiel- und einer Erinnerungsebene, die auf der Bühne visuell voneinander getrennt sind.

Bühnenbildner Andreas Auerbach hat die holzgetäfelten Wände des Theatersaals in den Bühnenraum verlängert. Eine gleichfalls getäfelte Wand grenzt den Spielraum von der Hinterbühne ab. Der Parkettboden, das Rednerpult und die kantig-gepolsterten Stühle in DDR-Braun runden den Eindruck eines Tagungsraums der achtziger Jahre ab. An der Rückwand des Bühnenbilds hat Auerbach einen transparenten Screen montieren lassen. Dahinter befindet sich der Erinnerungsraum.

Gespielte Ostalgie. Foto: Rolf Arnold
Gespielte Ostalgie. Foto: Rolf Arnold

Hier sitzen zu Beginn des Abends der erwachsen gewordene Protagonist (Wenzel Banneyer) und sein Jugendfreund S. (Roman Kanonik) und blicken mit Schwarz-Weiß-Fotos in der Hand und einer Flasche „Klarer“ auf dem Tisch zurück auf die bewegte Wendezeit: „Noch wussten wir nicht, was alles kommen und wie alles verschwinden würde.“

Claudia Bauer arbeitet sich in loser Folge stationsweise an den Erinnerungen des Ich-Erzählers ab. Im Schwimmbad lernte der Erzähler seine Jugendliebe L. (Bettina Schmidt) kennen. Eine Teenagerin, die fest an den Sozialismus der DDR glaubte. Bauer überzeichnet die Figur, indem sie Schmidt in einem bodenlangen Abendkleid im Design der DDR-Flagge auftreten lässt (Kostüme: Andreas Auerbach/Doreen Winkler). Während sich der Protagonist im Erinnerungsraum fiebrig an einen nächtlichen Besuch im Schwimmbad erinnert, tanzen die Nebenfiguren auf der Spielebene als fettleibige Kerlchen mit spitzen Nasen und Segelohren durch den blau angeleuchteten Qualm der Nebelmaschine.

 

Bettina Schmidt spielt die Jugendfreundin L. Foto: Rolf Arnold
Bettina Schmidt spielt die Jugendfreundin L. Foto: Rolf Arnold

Anna Keil brilliert als überspitzt dargestellte Lehrerin, die die politisch verordnete Enge ihren Schülern mit dem wiederkehrenden Satz, das müsse man differenziert betrachten, irgendwie zu relativieren versucht. Während die DDR-Pädagogin den Teenagern noch pflichtbewusst die heile sozialistische Welt vorgaukelt und der Wehrkundeunterricht die Jugendlichen auf ihren Friedensdienst (kein Witz, hieß wirklich so) bei der Nationalen Volksarmee vorbereiten sollte, braut sich spürbar eine revolutionäre Stimmung zusammen, die Spuren hinterlässt.

Der Erzähler berichtet von kleiner werdenden Freundeskreisen, weil immer mehr Familien über Prag und Ungarn in den Westen fliehen. Die von Bauer und Huber aus dem Romantext herausgefilterten Dialoge transportieren vortrefflich die von Unsicherheit geprägte Stimmungslage des Sommers 1989. Als im Herbst die Unzufriedenen auf die Straße gehen, sind der Protagonist und seine Kumpels dabei, einfach um sich zugehörig zu fühlen.

Alle im Takt. Foto: Rolf Arnold
Alle im Takt. Foto: Rolf Arnold

In der Inszenierung werden die Protestler durch den Transvestiten T. (Thilo Krügel) repräsentiert, einem Freund des Erzählers und seiner Clique, der aufgrund seines Abweichens von der sozialen Norm schon im Knast gesessen hat. Die politische Wende symbolisiert Bauer durch eine 360-Grad-Drehung der Bühnenrückwand. Auf deren Hinterseite kommt eine große LED-Werbetafel zu sehen, wie es sie im Osten dato nicht gegeben hat. Zu sehen sind dort Pseudo-Werbespots. Grelle Parodien auf die Bildsprache, mit der das Westfernsehen die Ostdeutschen in Windeseile zu Konsumbürgern erzogen hat.

Der Ich-Erzähler berichtet im zweiten Teil des dreistündigen Abends augenzwinkernd von seinem ersten Westbesuch, in Berlin, gemeinsam mit L., die sich schämte, ihre 100 Mark Begrüßungsgeld abzuholen. Auf der Videowall erscheint der kreidebleiche Stasi-Major, dessen inneres Weltbild mit der Erstürmung der Dresdner Zweigstelle in sich zusammenbricht. Vom Erzähler erfahren wir, er wird sich wenige Wochen später erschießen.

Projizierte Erinnerungen. Foto: Rolf Arnold
Projizierte Erinnerungen. Foto: Rolf Arnold

Die krude Mischung aus euphorischem Wende-Wahn und politischer Unsicherheit kulminiert in der Romanvorlage wie auf der Bühne in einem brutalen Rechts-Links-Konflikt. Weil der Protagonist und seine Freunde nicht rechts sein wollten, waren sie halt die Linken. Was heute völlig absurd bis surreal anmutet, war in der anarchistischen Wendezeit ostdeutsche Lebenswirklichkeit. „Wir hatten, was wir immer wollten: Anarchie.“

Im Roman schildert der Erzähler ausgiebig von seiner Liebe zum Ost-Punk. Claudia Bauer übersetzt die Realitätsflucht seiner Generation in die Musik szenisch mit einem Chor. Die Sängerinnen und Sänger intonieren mehrstimmig Songs von Punkbands wie Feeling B a-capella als deutsches Liedgut (Arrangements: Daniel Barke). Der Chor kommt darüber hinaus bei verbal durchexerzierten Massenszenen wie dem Schulunterricht oder dem Wehrkundelager zum Einsatz. Ein toller Regiekniff, der im Ergebnis dem Zuschauer den militärischen Drill der staatlich verordneten DDR-Erziehung vor Augen führt.

Bauers kurzweilige, weil spannungsgeladene Inszenierung ist unter dem Strich eine skurrile Freakshow voller Extreme und Absurditäten. Ein Teil der Zuschauer fühlte sich gewiss an die eigene Jugend erinnert. Für das jüngere Publikum gab es vor allem viel zu lachen. Bei der Premiere wurde insbesondere das Inszenierungsteam mit tosendem Applaus bedacht.

Schauspiel Leipzig
89/90
Nach dem Roman von Peter Richter

Nächste Termine: 03./23. Oktober, 03. November, jeweils 19:30 Uhr

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