Ränge wie im antiken Theater stehen dem Zuschauerraum gegenüber, oder wie im Hörsaal, mit Brüstungen zwischen den Reihen. Ein imposanter Raum-Klassiker für Gotthold Ephraim Lessings Theater-Klassiker „Nathan der Weise.“ Fünf Etagen, fünf Status-Symbole, absturzgefährliche Treppenstufen zu beiden Seiten an der Bühnenkante.
Ein Tor führt in die Arena, die wahlweise zu Innen- und Außenräumen werden kann. Akustisch ist das ein Schallraum, stimmlich bespielbar, die Sprache wandelt sich auf Schritt und Tritt. Zur Seite gerafft ist der große rote Vorhang im wundersam-anheimelnd-plüschigen Erlanger Markgrafentheater, in dem sich die Saaltüren modern maschinell schließen.
Vor aller Augen
Einer nach dem anderen kommen die Akteure auf den Platz und bleiben bis zum Schluss, hier geschieht alles vor aller Augen. Kein großer Auftritt des Kaufmanns Nathan bei seiner Heimkehr, er kommt durchs Tor geschwind auf den Platz. Blinzelt in der Helligkeit der Sonne, der Schreck, dass sein Haus abgebrannt ist, sitzt ihm im Nacken. Aufregung um die Tochter, die überlebt hat. Dank eines Retters. Ruhe findet er hier nicht. Er ist ständig in Bewegung. Nur in kurzen Augenblicken verharrt er. Sein Haushaltsweib Daja bringt ihn noch in Rage. Von den Augen über Halswirbel bis in die Füße wird Anspannung sichtbar gemacht, in Emotionen, immer einen Sprung der Sprache voraus, so weit das geht. Er erschrickt, kann sich freuen, kann denken und danken in großen Bögen. Wenn es dann um Geld und Geschäft geht, wird er beflissen, ernst und konkret. So jung die Figur wirkt, so kalkuliert sie der Schauspieler.
Körpersprache
Ach, ist das schon die Ring-Parabel? – Ja, doch dieser Nathan erzählt sie nicht wie eine Predigt, sondern als Begebenheit, die jemand erlebt und weitererzählt hat. Manchmal gehen eben Bühnen-Momente ins Ohr: Wie er da steht und vom Stein im Ring erzählt, und wie er das Wort als S-t-a-i-n-n herausbringt…
Andere auf diesem Platz sind lauter als Nathan, der nicht dröhnt. Nur ganz selten kurz laut wird, wenn es ihm ans Leben und ans Leiden für die Tochter Recha gilt. Geschäft und Reichtum haben ihn ruhig werden lassen. Nathan-Darsteller Ralph Jung – groß, schlank, nach Erscheinung kaum vorstellbar, dass er Mitte 40 ist – zeigt die Gründe Nathans und die Abgründe. Aber anders als Geschäftsleute später aalglatte starre Formen wahren, nach Verwarnungen vor falschen Signalen der Körpersprache im geschäftlichen Verhandlungskampf. Und nach dem scheinbar alle Regeln befolgt sind, wird man in der modernen Kommunikation wieder zur Authentizität tendieren. Wenn die dann nicht schon wegtrainiert ist.
Zeit der Kreuzzüge: Heute.
„Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge“ offeriert die Theaterwerbung, doch Kostümbildnerin Ulrike Schlemm lässt die Akteure Normal-Anzüge tragen, es entfällt die Möglichkeit sich in ein Kostüm einzuleben und so einen Charakter anzuverwandeln.
Nathans Anzug wechselt in unterschiedlichem Licht den Farbton, je nach Beleuchtung kies-grau oder sand-gelb, er glänzt zuweilen. Sultan Saladins Anzug hat einen Edelstein-Grün-Ton.
Regisseurin Katja Ott, Bühnenbildner Bernhard Siegl und Licht-Designer Thomas Krammer schaffen mit der Beleuchtung unmerklich Veränderungen in Räumen und Bezügen, alles geht der Reihe nach ineinander über. Nur die Szene von Verrat und Beratung mit der Obrigkeit gibt es als Video.
Über drei Stunden wird die Spannung gehalten! Fast ständig sind alle Personen anwesend. Sie alle tragen diesen Abend, mit Nathan voran Violetta Zupancic als Recha, Marion Bordat als Daja und der unbedarft-spontan zum Retter gewordene Tempelherr Benjamin Schroeder.
Antiker Theaterbau
Mit dem Blick nach Leipzig kommt Bedauern auf, dass das so gut funktionierende Erlanger Bühnenbild aus Stufen und Brüstungen ja in Leipzigs Schauspielhaus auch schon stand, sogar in kompletter Oval-Form, eingebaut von Intendant Sebastian Hartmann zum Ende seiner Amtszeit, benutzt für etliche Inszenierungen und Gastspiele, aber dann wieder demontiert. Als ob es nicht die Überlegung wert gewesen wäre, diese Arena andernorts aufzubauen, um sie dann auch weiter zu benutzen. Zu spät.
Er kehrt wieder
Zu Beginn wird die Bühne gekehrt, ein Reizpunkt für das Publikum, wenn der offensichtlich vorhandene Dreck in Richtung Saal gefegt wird. (George Taboris Theater-im-Theater-Stück „Goldberg-Variationen“ mit Kehr-Szene spielte immerhin zwischen zwei Bombenangriffen aufs Bühnenhaus unter rieselndem Putz…) Mit gestelztem Husten quittiert das Publikum den Besenmann, nach der Pause wird er wieder erscheinen, kehrt er wieder, dazwischen Witze erzählend von Religionen und Gläubigen, teils alte Witze. Lacher gibt es allemal. Doch was soll das? „Es nimmt nichts vom Glauben und gibt ihm nichts“, wie Israels Volksmund zu sagen pflegt. Oh ja, wenn denn das ein Einstieg in spätere Erinnerungen an diesen „Nathan“ ist, dann ist auch das weise…
War das so ähnlich im Stegreiftheater zu Zeiten von Friederike Caroline Neuber? Frau Neuberin hat freilich den Hanswurst weder verbannt noch verbrannt, sondern sie hatte nur zeitweise keinen. Und hat ihn deshalb im Vorspiel der obligatorischen aktuellen „Haupt- und Staatsaktion“ in die Wüste geschickte. Oder in die Hölle, in die Hölle der Regeln des Theaters á la Gottsched und – ja, auch den traf sie noch in Leipzig – Lessing! Das ist fast wie ein Witz vom Erlanger Besenmann…
Vom Bühnentischler zum Nathan
Ralph Jungs Theaterlaufbahn begann am „Theater der Kinder“ in Leipzigs Westen. Dann erlernte er in den Theaterwerkstätten den Beruf des Bühnentischlers, studierte an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, war ab dem zweiten Studienjahr im Studio im Schauspiel Leipzig, brillierte da schon als Diener im Sommertheater im Paulaner-Innenhof in Goldoni / Turrinis „Wirtin“. Da spielte er auch schon das Solo „Die Nacht kurz vor den Wäldern“. Mit einer Truppe junger Leute tourte er einen Sommer an der Ostsee, Spontan-Theater an der Ufer-Promenade. Nach Jahren in Esslingen und dem „Rocky“ in der „Rocky Horror Show“ in Nordhausen, dort auch dem Pinneberg in „Kleiner Mann, was nun?“, führten ihn Rollen und Engagements nach Jena, Gera, Altenburg, Schleswig, Augsburg, Konstanz, Überlingen und in die Schweiz, u. a. zu einer schwyzerdütschen „Wilhelm-Tell“-Aufführung. In Osnabrück spielte er den „Sommernachtstraum“ ganz allein: Puck erzählte und erklärte alles! Als Robinson Crusoe hat er dann zwar nicht auf einer Insel aber mit einem Klassenzimmerstück in Schulen überlebt.
Heimat, veränderbar
„Jährlich kommen rund 10.000 neue Bürger nach Erlangen“, schreibt Oberbürgermeister Dr. Florian Janik im Theater-Spielzeitheft, „und fast genauso viele verlassen die Stadt auch wieder.“ Und er erinnert daran, dass einst Tausende Hugenottische Glaubensflüchtlinge in die Stadt kamen und nach dem Zweiten Weltkrieg viele Aussiedler und Heimatvertriebene. „Heimat“, so ist diese Spielzeit des Theaters Erlangen überschrieben, den Erlangen-Marketing-Spruch „Offen aus Tradition“ nimmt sich Intendantin und „Nathan“-Regisseurin Katja Ott zu Herzen und wünscht sich und dem Publikum „Theater und Heimat als veränderbar zu erleben.“
Nun denn, Anfang Oktober, 26 Jahre nach Fall der Mauer in Deutschland, 25 Jahre nach Deutscher Wiedervereinigung, erzählt Lessings Stück nach wie vor von der Völkerwanderung, ob es in Jerusalem spielt oder in Erlangen.
Was besagt da aber der Hintergrundsound, der fast den ganzen Abend durch den Raum wabert, die Zuschauer suggestiv einhüllt und das Zuhören erschwert, Töne und Geräusche aus der Zeit zwischen den Kämpfen und Kriegen?
Im Erlanger Markgrafentheater zeigt man, dass Theater eine Angelegenheit von Mensch zu Mensch ist, eben einmal nicht, wie sich Schauspieler ins Timing einer überdimensionierten Spektakel-Technik um sie herum einbringen. Eine sehr weise Entscheidung.
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