Das Neue Theater Halle beweist ein Gespür für aktuelle Themen. Vor dem Hintergrund von Pegida und Co. feierte am Donnerstag "Wir sind keine Barbaren!" Premiere. Regisseur Ronny Jakubaschk nimmt auf der Kammerbühne die diffusen Sorgen und Ängste deutscher Wutbürger vor Flüchtlingsströmen auf's Korn.
Heiner Müller erwies sich mehr als einmal in seinem Leben als düsteres Orakel. Am 4. November 1989, fünf Tage vor dem Mauerfall, prophezeite der ostdeutsche Dramatiker den DDR-Bürgern bei der Kundgebung auf dem Alexanderplatz Arbeitslosigkeit und Armut voraus. Müller sollte Recht behalten. Vier Jahre später lieferte er sich eine denkwürdige Diskussion mit dem Theaterkritiker Henning Rischbieter. “Es gab keinen Feind mehr. Wenn das Reich des Bösen weg ist, ist der Teufel plötzlich überall. Die Barbaren sind etwas Diffuses, Jugoslawien, Armenien, Georgien, überall gibt es diese kleinen Barbarenstämme”, postulierte Müller.
“Es gibt das Problem, wie hält man die davon ab, in die Wohnstube zu kommen, in der man sich einigermaßen eingerichtet hat”, führte der Dramatiker aus. “Man braucht Mauern. Es dauert immer eine Zeit, bis man merkt, was nötig ist. Man kann nicht sofort wieder eine Mauer bauen. Man weiß nur, und erfährt jede Woche neu: Man braucht sie. Aber man kann sie in der Form nicht wieder bauen. Man muss sich Zeit lassen und andere Architekturformen entwickeln. Es darf nicht mehr so einfach aussehen, aber eigentlich braucht man es schon.”
Fünf Jahre nach dem Mauerfall von der Errichtung neuer Mauern zu sprechen, war ein Wagnis, eine Provokation sondergleichen. Zehn Jahre später gründete die Europäische Union die Grenzschutzagentur Frontex, die seitdem die EU-Außengrenzen gegen illegale Einwanderer militärisch abschirmt. Heiner Müller erlebte die Erfüllung seiner Prophezeiung nicht. Der Theatermacher starb 1995 im Alter von 66 Jahren. Ganz in der Müller’schen Tradition entwickelte der Dramatiker Philipp Löhle für das Theater Bern einen Bühnentext. “Wir sind keine Barbaren!” feierte im Februar 2014 Uraufführung. Das Neue Theater zählt zu den ersten deutschen Bühnen, die die bissige Realsatire zur Aufführung bringen.
In der Hallenser Kulturinsel ist das Stück auf der Kammerbühne zu sehen. Ausstatterin Annegret Riediger hat den Akteuren auf der Vorbühne eine Wohnung eingerichtet. Zwei Stühle, Kühlschrank, Minibar, Familienfoto. Deutsche Kleinbürgerlichkeit, reduziert auf eine goldfarbene Schrankwand.
Die Handlung zirkuliert um zwei Ehepaare, die Tür an Tür in einem Mehrfamilienhaus wohnen. Barbara (Stella Hilb) und Mario (Matthias Walter) sind Spießer, Mitte 30. Sie trägt ein biederes Kleid, er Rollkragenpullover, beide Hornbrille. Linda (Sonja Isemer) und Paul (Alexander Gamnitzer) sind eine Generation älter. Beide scheinen schon äußerlich in den Achtzigern steckengeblieben zu sein.
Als in Barbaras Geburtstagsnacht ein Flüchtling vor der Tür steht, dem die Frau Obdach gewährt, stehen die Beziehungen der vier Figuren vor Zerreißproben. Barbara offenbart sich als die Hilfsbereite, argumentiert mit Humanität und Nächstenliebe, findet keine Verbündete. Dabei ist ihr positiver Rassismus keinen Deut besser als die Fremdenfeindlichkeit des Trios, das sie umgibt. Linda präsentiert zunächst sämtliche Vorurteile, die dem westlichen Wohlstandsbürger einfallen können, ändert aber überraschend radikal ihren Standpunkt, nachdem sie den Neuankömmling persönlich kennengelernt hat.
Je mehr sich Barabara für den Fremden aufopfert, desto stärker sieht Mario seine Beziehung in Gefahr. Paul lernen die Zuschauer als totalen Opportunisten kennen, der allen anderen situativ nach dem Mund redet. Doch der Neuankömmling, der in keiner Szene selbst auftritt, ändert Pauls Wahrnehmung von der Welt. Er beginnt einen Schutzraum zu bauen, um vor der drohenden Afrikaner-Invasion gewappnet zu sein.
Ronny Jakubaschk (inszenierte in Halle “Tschick” und “Im weißen Rößl”) inszeniert die scharfzüngigen Dialoge als Salonstück, das Dank seiner vier starken Darsteller für viel Lachmuskeltraining sorgt. Löhles Wortwitz ergänzt der Regisseur mit etwas Slapstick. Das Resultat ist eine bissige Polit-Sitcom im Wohnzimmer des deutschen Kleinbürgertums.
Das Quartett auf der Bühne kämpft. Jeder für sich. Alle gegen alle. Null Dialogbereitschaft. Haben sich die Figuren einmal positioniert, rückt keiner auch nur einen Deut von seinem festgefahrenen Standpunkt ab. Das Verhalten erinnert an die tausenden Demonstranten, die sich in den letzten Wochen in Dresden und anderswo Gehör verschafft, aber mit etablierten Politikern und Medien wenn überhaupt, dann nur widerwillig Worte gewechselt haben.
Löhle verbindet die losen Szenen mit Chören. Wütende Mitmenschen, die in rhtythmischen Gesängen als moderne Barbaren diffuse Ängste und Nöte artikulieren. Jakubaschk greift nicht auf Laien zurück, die montags für Pegida auf die Straßen gehen. Die Darsteller bilden den Heimatchor gemeinsam mit weiteren Ensemblemitgliedern. Die Chöre erschallen als durchdringende Schlachtrufe, die dem Zuschauer im Gedächtnis hängen bleiben. Kern der Botschaften: “Wir sind ein Volk.” Na dann.
Bühnen Halle, Neues Theater
Wir sind keine Barbaren
Regie: Ronny Jakubaschk
Mit: Stella Hilb, Matthias, Walter, Sonja Isemer, Alexander Gamnitzer u.a.
Nächste Termine: 13.02, 21.02., 22.02.15
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