Im "Volksfeind" beschäftigt sich Ibsen mit der Verantwortung des einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Badearzt Thomas Stockmann (Alexander Pensel) weiß aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen, dass das Wasser im neuen Kurbad, das den Tourismus ankurbeln soll, mit Bakterien verseucht ist. Die Allgemeinheit soll die Wahrheit erfahren, die nicht nur die Position von Thomas' Bruder Peter, dem Stadthauptmann, gefährdet. Das Neue Theater Halle zeigt den Klassiker in einem modernisierten Gewand.
Florian Borchmeyers Textbearbeitung aus dem Jahr 2012 reduziert die Handlung um einige Nebenfiguren und passt den antiquierten Text dem heutigen Sprachgebrauch an, ohne sich an Ibsens sprachlicher Raffinesse zu vergreifen. Hausregisseur Jörg Steinberg inszeniert das Lehrstück über Verantwortung und Moral im Stile einer Soap Opera. Ausstatter Tilo Steffens hat den Figuren eine üppige Wellness-Oase auf die Bühne des Saals gezaubert. Duschen, Sauna, Cocktailbar. Orangefarbene Handtücher ergänzen prima die orangenen Bademäntel, in die sich die Figuren stellenweise einhüllen dürfen.
Hagen Ritschel (Peter) spielt den überehrgeizigen Karrieristen. Aalglatt, Businessanzug am Leib, Parteibuch in der Tasche. Alexander Pensel (Thomas) gibt den um Anerkennung ringenden Doktor. Ein junger Familienvater, der sich nicht gegen den älteren Bruder behaupten kann. Bei Steinberg eint beide Brüder eine Borderline-Störung. Wenn Peter und Thomas im dritten Akt das erste Mal in aggressiver Manier aufeinander losgehen, soll das witzig sein, sorgt aber nur für wenige Schmunzler.
Die Nebenfiguren Hovstad (Harald Höbinger), Aslaksen (Karl-Fred Müller) und Billing (Till Schmidt) erscheinen schablonenhaft als willfährige Opportunisten, deren charakterliche Eigenarten überhaupt nicht hervortreten. Thomas erwachsene Tochter Petra fehlt gänzlich. Die Figur ist in Ehefrau Katharina (Bettina Schneider) implementiert worden.
Innere Haltungen werden an diesem Abend durch Gebrülle und Handgemenge transportiert. Hauptdarsteller Pensel strahlt bei der Premiere auf der Bühne zu wenig Präsenz und Spannung aus, um die letzten Reihen des Saals mitzureißen. Hagen Ritschel hat seine wenigen guten Momente just in den Szenen, in denen er aus der Haut fahren darf.
Warum sich Kurgast Hansen (Jörg Simonides) in den Abend verirren durfte, weiß nur Regisseur Steinberg. Die Figur bringt weder die Handlung voran noch sind ihre kurzen Monologe für die Essenz der Inszenierung von Relevanz. Der Abend würde auch völlig ohne Simonides’ Kurzauftritte funktionieren.
Im vierten Akt bezieht Steinberg das Publikum in die Inszenierung mit ein. Die Bürgerversammlung findet für die Besucher unter gleißendem Scheinwerferlicht statt. Dabei ist der Raum zu diesem Zeitpunkt bereits gut beheizt. Erst als Thomas endlich seinen Monolog über die Missstände halten darf, die er in unserer Gesellschaft ausmacht, fährt die Technik die Spots zumindest etwas herunter. Anschließend ist das Publikum eingeladen, sich in die “Diskussion” einzubringen. Die soeben aufgebaute Spannung verfliegt sofort. Das Improtheater bringt den Fluss der Inszenierung ins Stocken. Schade. Einige Premierengäste melden sich zu Wort, doch von einer Debatte kann freilich keine Rede sein.
Thomas fährt schließlich aus der Haut. Auf der Bühne liefern sich die Figuren ein Handgemenge. Es kommt zu einigen Knalleffekten, denen die Brandmelder nicht gewachsen sind. Der Schlussakt wird vom Tuten der Alarmanlage untermalt. Gegen Ende tauchen behelmte Feuerwehrmänner auf der Technik-Empore auf. Keine Schauspieler. Zum Glück falscher Alarm. Ein Premierenabbruch hätte Steinbergs figurativem Theater mit erhobenem Zeigefinger, das weder episch noch absurd, sondern einfach nur langweilig ist, vollends zum Fiasko werden lassen.
Volksfeind
Regie: Jörg Steinberg
Mit: Alexander Pensel, Bettina Schneider, Hagen Ritschel, Harald Höbinger, Karl-Fred Müller, Till Schmidt, Peer-Uwe Teska, Jörg Simmonides
Nächste Termine: 14./15. März, 5. April
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