Mario Schröder hat für das Leipziger Ballett Shakespeares "Othello" choreografiert. Was verführt einen Menschen dazu, die Frau zu ermorden, die er am meisten liebt? Diese Frage steht über der Choreografie, die zu Kompositionen von Purcell, Pärt, Händel und Schostakowitsch zu sehen ist.
Othello ist seit dem 19. Jahrhundert ein Stoff für’s Musiktheater. Der Stoff des eifersüchtigen Feldherrn, der seine Geliebte Desdemona tötet und aus Scham, einer Intrige des Offiziers Jago auf den Leim gegangen zu sein, Suizid begeht, verhandelt Themen, die wie gemacht für die Opernbühne sind. Die italienischen Komponisten Rossini (1816) und Verdi (1887) verarbeiteten das Drama in abendfüllenden Werken. Verdis Oper taucht bis heute regelmäßig auf den Spielplänen der großen Bühnen auf.
Das klassische Tanztheater nimmt sich dem Stoff verstärkt seit den 1980ern an. John Neumeier choreografierte seinen “Othello” 1985 mit großem Erfolg in Hamburg. Es folgten im vielbeachtete Arbeiten von Elliot Goldenthal, Arvo Pärt und Tarek Assam. 2013 widmeten sich Ballet-Compagnies in Essen und Mannheim dem populären Stoff.
Mario Schröder hat in Leipzig seine ganz eigene Sicht auf Shakespeares Beziehungsgeflecht entwickelt. Der Balletdirektor reduziert das Drama auf vier Figuren: Othello, Desdemona (Laura Costa Chaud), Jago (Oliver Preiß) und Cassio (Bjarte Bruland).
Der Choreograf konfrontiert den Zuschauer gleich mit fünf Othellos: Der Empfindsame (Tyler Galster), der Liebende (Ronan dos Santos Clemente), der Politiker (Nikolaus Tudorin), der Krieger (Mark Geilings) und der Fremde (Piran Scott). Was im Sprechtheater ein wunderbarer Regie-Kniff sein könnte, erweist sich als ein Schwachpunkt des Balletts. Der Zuschauer muss erst das Programmheft studieren, um die Rollen der fünf Tänzer zu entschlüsseln.
Im ersten Bild mit dem Quintett, das die fünf Facetten des tragischen Helden zum Thema hat, agieren die Tänzer mit ihrer entfesselnden Akrobatik weitgehend synchron. Dass der liebende Othello vom dunkelhäutigen Brasilianer Ronan dos Santos Clemente im Laufe der Choreografie als ungestümer Exot getanzt wird, während die Soli seiner vier Kollegen eher kontrolliert ausfallen, hat zumindest einen faden Beigeschmack.
Jago ist bei Schröder der diabolische, ungestüme Verführer. Die Ausstatter Andreas Auerbach und Paul Zoller verpassen Oliver Preiß passenderweise ein rotes Hemd. Desdemona erlebt das Publikum als umherwirbelnde, zerrissene Figur, die sich final von Othello in den Tod tragen lässt. Schröder verzichtet auf eine Tötungsszene.
Der Choreograf verklausuliert das tragische Ende mittels einem gigantischen weißen Tuchs, in das sich Laura Costa Chaud bereitwillig von den fünf Othellos hüllen lässt. Eine Metapher für das Taschentuch, das Jago Cassio unterjubelt, um Desdemonas angebliche Untreue ans Licht zu bringen.
Schröder erzeugt mittels viel dunkelblauem und rotem Licht eine mystische Atmosphäre. Der Raum wird mittels verschieb- und um die eigene Achse drehbarer Wandfragmente von Bild zu Bild neu definiert. Im zweiten Akt kommen fünf rot leuchtende Querstreben hinzu, die von der Bühnendecke herabgelassen und frei schwebend verschiedenartig angeordnet werden.
Aus dem Graben erklingen mythische Klänge. Schröder bedient sich im Gemischtwarenladen der Alten Musik bei Purcell und Händel, dazu Schostakowitsch und ganz viel Arvo Pärt. Kapellmeister Jeremy Carnall entlockt dem Gewandhausorchester dramatische Tempi und düster-liebliche Klangfarben. Countertenor Jakob Jozef Orlinski trägt in der Rolle des beobachtenden Shakespeare mit betörenden Timbre mehrere altenglische Lieder vor, die von Stefan Maass auf der Laute begleitet werden.
Schröders überartifizieller “Othello” trifft nicht jeden Geschmack. Die akrobatischen Leistungen der Tänzer und die mystische Atmosphäre, die den Saal umhüllt, lassen den Ballett-Besucher über inhaltliche Mängel hinwegblicken. Eine verbindliche Antwort auf die Ausgangsfrage, die über der Choreografie schwebt, bleibt der Ballettdirektor schuldig. Das Premierenpublikum spendete Mitwirkenden und Team trotzdem reichlich Beifall.
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