Das mitteldeutsche Publikum kommt in dieser Spielzeit gleich zwei Mal in den Genuss von Leonard Bernsteins "West Side Story". Die Hallenser Inszenierung scheitert allerdings an ihrer totalen Beliebigkeit. Das Publikum strömt dennoch in Scharen ins Opernhaus.

Mit ihren sinfonischen Tänzen fordert die “West Side Story” den Regisseur wie kein Musical zur Implementierung durchdachter Choreografien in die Inszenierung auf. Daran krankt die Inszenierung des Hallenser Ballettdirektors Ralf Rossa. In keiner Szene kommen die tänzerischen Leistungen der Mitwirkenden über allenfalls mittelmäßigen, weil nur angedeuteten Operntanz hinaus. Obendrein fehlen Präzision und Synchronität. In nahezu jeder Massenszene tanzt irgendein Darsteller außerplanmäßig aus der Reihe.

Dabei spendiert Rossa Jets, Sharks und deren Girls jede Menge Bewegungsfreiheit. Matthias Hönig begrenzt den Bühnenraum nur an den Seiten und im Hintergrund vage von zugetaggten Wänden. Hätte der Bühnenbildner, der auch die zahlreichen Lichteffekte verantwortet, die Arbeiten der Theaterwerkstatt selbst beaufsichtigt, hätte eine Malerin gewiss nicht zur “falschen” Sprühdose gegriffen. Als in einer Szene das Neonlicht aufflammt, sticht ein beliebiger “Tag” an einer Seitenwand ohne erkennbaren Bezug zu Stück und Inszenierung grell hervor. Ein böser Schnitzer, der aber nicht auf Kappe des Regieteams geht.

Eine triste Galerie verleiht den Figuren mehr Platz auf der – im Vergleich zum Leipziger Opernhaus – schmalen Bühne, etwa um die Shakespeare’sche Balkonszene zu spielen. Doc’s Store und Marias Nähstube werden durch einschwebende Kulissen angedeutet. Den Rest erledigt das Licht. Damit bleibt die Bühne so beliebig wie die Inszenierung. Qualmende Mülltonnen deuten im ersten Akt an, dass man sich irgendwo “unten” befindet. Ob in New York oder Halle-Neustadt ist nicht erkennbar. Kein Lokalkolorit (muss nicht immer sein), keine neue Perspektive auf das Werk (darf gerne sein). Immerhin sind Wiebke Horns Kostüme nicht der Hollywood-Adaption abgekupfert. Die Jets sind die Draufgänger, gekleidet wie die Rocker der Sechziger. Viel Leder, teils ärmellos. Die Sharks tragen sportliche Hemden oder Polo-Shirts.

Ralf Rossa inszeniert den Klassiker nicht als moderne Interpretation von Shakespeares “Romeo und Julia”, sondern als poppig aufgezogene Revue, deren Gesangsnummern von einigen Dialogen unterbrochen werden. Die Mitwirkenden kosten das Rampenlicht aus, erwarten nach jedem Song brav Szenenapplaus (den sie auch bekommen), aber lassen durch die Bank weg die Ernsthaftigkeit hinter der Story vermissen. Kein Hinweis auf die sozialen Ungerechtigkeiten, die das Werk thematisiert. Ein Verweis auf die Rassenunruhen, vor deren Hintergrund das Stück entstanden ist? Fehlanzeige.
Ein Transfer der äußeren Handlung in die Gegenwart findet ebenso wenig statt wie die Erörterung tagesaktueller Politik. Dabei ist die “West Side Story” ein durch und durch politisches Musical. Von einem Stadttheater, das im Gegensatz zu kommerziellen (Tour-)Produktionen nicht zwingend auf hundertprozentige “Werktreue” angewiesen ist, darf gerne mehr kommen als das bloße Herunterspulen von Evergreens wie “Maria”, “Tonight” und “America”. So könnte ein Regisseur beispielsweise die dieser Tage vielerorts auftretende Fremdenfeindlichkeit gegenüber Migranten im Rahmen einer Inszenierung dieses Stücks auf der Bühne erörtern.

Musikalisch ist die Staatskapelle Halle (Leitung: Robbert van Steijn) ein Genuss. Das Orchester spielt Bernstein in Reinkultur, indem es die teils extrem surreal anmutenden Klangwelten des Werks zu einem punktiert vorgetragenen Ganzen verarbeitet. Ines Lex bleibt als Maria trotz wallendem Ballkleid blass. Ihr bebender Sopran bildet einen angenehmen Gegensatz zu Björn Christian Kuhns warmer Tenorstimme, die der Musical-Spezialist Tony einverleibt. Die Rolle ist bei Kuhn in guten Händen, der die tiefe Sehnsucht nach persönlichem Liebesglück jenseits Bandenzugehörigkeiten gesanglich auszudrücken weiß.

Alles in allem spricht die Hallenser “West Side Story” diejenigen an, die eine schlichte, geradlinige Inszenierung bevorzugen, die getrost unter dem Label “werkgetreu” abgestempelt werden darf. In der Händel-Stadt zählt der Abend, der im September Premiere feierte, zu den Publikumshits der Spielzeit. Die Aufführungen sind regelmäßig ausverkauft.

Ab 20. Juni 2015 steht die “West Side Story” auch auf dem Spielplan der Oper Leipzig. Die Inszenierung dürfte opulenter ausfallen, handelt es sich doch um eine spartenübergeifende Produktion von Oper und Ballett. Im Graben wird das Gewandhausorchester spielen. Regie führt Ballettdirektor Mario Schröder. Am Pult steht Intendant Ulf Schirmer.

West Side Story, Oper Halle
Nächste Termine: 16.12., 10.01., 18.01.

http://buehnen-halle.de/produktionen/west-side-story

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