"Probe des Arbeitertheaters Metallurgiehandel" heißt es auf der Einladung, und auch im Reservierungsbuch der jeweiligen Gastwirtschaft. So auch letztes Wochenende. Einmal im Jahr ist alles fast so wie früher, nur der Probenraum ist nicht der Speisesaal der City-Werke und die Bühnen sind nicht die der Leipziger Kulturhäuser ... Ist das nicht alles lange her? Nein, wenn die Kollegen, die Freunde von damals darüber reden. Und wehe, es stimmt ein Name, eine Rolle nicht!
Zwei Dutzend Namen stehen auf der aktuellen Besetzungsliste, einige hundert Rollen müssten daneben stehen. Aber die sind nur schöne Erinnerungen. Doch zu alten Szenenfotos wird nach alten Texten Erich Giesas und Noten Siegfried Tiefensees gesungen!
Tabletten gegen Textvergessnis, Übelnehmen und Lampenfieber …
Und weil als Spielort, Bühnenbild wie Zuschauerraum, die “Central-Apotheke” am Thomaskirchhof gewählt worden war, gab es einen Vortrag zum Apothekenmuseum des Sächsischen Apothekerverbandes und eine Führung durch die Ausstellung. Mit Vorführung und Ausprobieren des Tabletten-Pressens, einschließlich Erläuterung des Pillendrehens …
Erklärung – Ausprobieren – Korrektur – Ausprobieren. So funktionierte das auch mit den Tabletten. Ganz ähnlich inszenierte Erich Giesa mit seinem Arbeitertheater, der gelernte Schauspieler und Leipziger Bühnenprofi mit Jahrzehnten Erfahrung. Er war da nie zimperlich, er beschrieb nur kurz und prägnant Gesten und Gestus … Kurz ein Witzchen. Da hörten alle zu und grienten. Punkt aus. Und: “Bitte!”
“Und wogegen sind die Tabletten?”, überlegte Michael Golm, schnell wurden Behandlungsanliegen aufgezählt: “Aufregung! Textvergessnis! Stichwortverpassen! Zuspätkommen! Übelnehmen! Schweißfuß! Über-sich-selber-ärgern! Lampenfieber…”
Mehr-Generationen-Projekt…? – Früher war das das Normale
Was heute als sogenanntes und ganz besonderes Mehrgenerationen-Theaterprojekt von immer mehr Stadttheatern neu erfunden wird, war einst das Normale! Es war nicht nur ein Projekt aus einer Förderung von irgendwoher, sondern angelegt auf Aufführungsserien, Proben zwei Mal die Woche feierabends. Und Spielbegeisterte trafen sich, die Älteren brachten Jüngere mit, ganze Familien wurden eingespannt. Weihnachtsmärchen hatten rund 30 Vorstellungen in fünf Wochen. Nachmittags zum Advent – zeigt man die dritte oder vierte Vorstellung seit Freitag … Wer damit nicht klar kam, blieb weg. Mancher, der beruflich oder persönlich aufhörte, pausierte nur. Es ging den Akteuren nicht um Geld. Der Trägerbetrieb sorgte mit seinem Kultur-und-Sozial-Fonds für einen Etat, die Abrechnung und Buchhaltung.
Versicherungsrechtlich hieß es “organisierte gesellschaftliche Tätigkeit”. Bernd Schauer ist dabei, der Chef, der neben vielen Ehrenämtern im Metallurgiehandelsbetrieb auch die Arbeitertheaterfäden zusammen hielt. Und dass er ein Traum von einem Weihnachtsmann war, bekommt er immer zu hören, erinnernd an wallenden weißen Schopf, von Frost und Frust ergrautes Antlitz mit sonor-freundlicher Stimme. Bald nun ist wieder Weihnachtsmärchen-Zeit …
Im Reich der Könige, Prinzessinnen, Zwerge und Landstreicher
“Wer warst denn Du damals? In welchem Stück? Bei den Hofdamen Zwicke und Zwecke? Den Landstreichern Schluck und Schleck? Du warst das bewaffnete Organ, das im Walde auf Posten ein Lied sang!” Die sich dieser Tage trafen, haben nie alle zusammen gespielt. Manche trafen sich erst in jüngerer Zeit. Erich Giesa hatte seinen Darstellern Rollen auf den Leib geschrieben und ein pointiertes Zusammen-Spiel organisiert. Gesangsnummern dort, wo Figuren über sich selbst hinauswuchsen. Heinz Richter, einst Chefmaskenbildner im Schauspielhaus, hatte Erich Giesa, mit dem Enthusiasmus der Freizeit-Schauspieler anstecken können. Auch er opferte Freizeit-Stunden. Heutzutage kommt Heinz Richter ohne Masken-, Perücken- und Schminkutensilien zum Treffen.
“Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze….” – Hier irrt Schiller!
Denn regelmäßige Aufführungen in großer Truppe, Inszenierungsarbeit, Proben gibt es allerdings schon lange nicht mehr. Man traf sich noch öfters mit Erich Giesa, bevor er 2003 starb. Sein Grab auf dem Südfriedhof ist namenlos. “Die Nachwelt flicht dem Mimen keine Kränze”, ach Friedrich Schiller, wisst Ihr das hier? – Jetzt flechten dem Erich Giesa seine Zöglinge jedes Jahr einen neuen Kranz …
Und immer noch an der Rampe, der Bühnenkante, nah dran am Publikum: Die Spiel-Gefährten kamen bei Geburtstagen und Hochzeit zusammen, spielten neue Rollen, und wenn es ein Schaffner in der Straßenbahn bei der Stadtrundfahrt war oder Leipzigs Alt-Bürgermeister Hieronymus Lotter. Nun ja, der Darsteller war einst 15-jährig zum Arbeitertheater Metallurgiehandel gekommen, wurde Wirtschaftskaufmanns-Lehrling und spielte in zwei Märchen Dorfjungen.
Und wenn die Treffen als “Probe” bezeichnet werden, so gab es schon eine halb gelesene, halb gespielte sächsische Ballonfahrt von Leipzig nach Dresden! Und im Jahr darauf eine historische Szene der Berliner “Distel” aus den 1970er Jahren zum damals gesundheitspolitisch-nahrungsmittelproblematisch-und-sowieso-konsum-wichtigen Thema: “Nimm ein Ei mehr!” Alle die da waren, bekamen eine Rolle ab. – Und tatsächlich gab es zu gleicher Zeit zufällig Arbeit für einen aktiven Rollenspieler: Es wurde eine Frauentagsfeier mit Menü im Stile von 1982 gewünscht! Und so geschah es dann auch. “Nimm ein Ei mehr”, Original-Titel “Das Ei des Kolumbus” von Hans Krause, war mit dabei.
Und man hilft sich zwischen Spielern und Publikum gegenseitig aus: zum Beispiel neulich, als eine szenische Lesung zustande kam, weil der Autor des Büchleins “Das Leibzger Allerlei” spontan die Idee hat, bei einer Buch-Lese-Veranstaltung mit verteilten Rollen zu arbeiten: Eine Idee, ein Anruf, eine Einspringerin! Wie das im Theater hinter der Bühne heißt, wenn schnell ein Spieler gefunden wurde. Und das mit Spiellaune. So wie sie alle auch diesen Begriff bei Erich Giesa gelernt hatten.
Daten, Fakten, Bilder, Beweise
Eleonore Gottelt, von früher Jugend an beim Arbeitertheater dabei, sammelt und erforscht seit Jahren akribisch alles, was Archive und private Sammlungen an Textbüchern, Programmheften, Fotos hergeben, was Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten. Eine ausführliche Chronik listet auf, was, wann, von und mit wem aufgeführt wurde. “Und ich weiß auch, was noch fehlt”, bedauert Eleonore Gottelt, unentwegt immer Ausschau haltend nach allem was zu Arbeiter-, Amateur- und Laientheater in Leipzig zu DDR-Zeiten publiziert wird. “Aber in den Archiven ist wenig zu finden, und von manchem wissen wir, dass es mit größeren Aktenmengen umgelagert wurde, vermutlich in Kartons aufbewahrt, aber noch nicht erschlossen ist. Eine Artikelserie, sozusagen der Zwischenbericht, erschien 2012 in der FATZ, der Freien-Amateurtheater-Zeitung. Die Materialsammlung wächst und wächst weiter….
Siegfried Tiefensees Noten werden in seinem Nachlass in der Stadtbibliothek aufbewahrt, so als würden sie nur auf neue Aufführungen warten! Aus Szenenfotos, Presseartikeln und Dokumenten wurde eine Power-Point-Präsentation. Und schon mehrfach wurde ein Film gezeigt! Denn die Aufforderung “Greif zur Kamera, Kumpel” hatten die Filmexperten des Torgauer Flachglaskombinatskumpel wörtlich genommen, Anton Tschechows poetische aber unglaubliche und umwerfend komische Geschichte des “Romans mit dem Kontrabass” wurde verfilmt, mit Arbeitertheaterspieler Klaus Fehre als Kontrabass-Kasten-Schlepper in der Hauptrolle. Den Text sprach der Leipziger Schauspieler Günter Grabbert. Im Leipziger Staatsarchiv wird der Film aufbewahrt.
Kulturstraße Bitterfelder Weg
So alt wie das gegenseitige Erzählen sind die Darbietungen von Wahrheit und Erfindung, manchmal auch Dichtung. Wie in der Arbeiterbewegung nicht nur Arbeiter die Welt verändern wollten, spielten zur selben Zeit in Arbeitertheatern nicht nur Arbeiter. Später auch nicht. “Bitterfelder Weg” war in der alten DDR eine Verbindung von Berufskünstlern und Amateuren. Bildende Künstler malten mit Zirkeln von Werktätigen, Schauspieler städtischer Bühnen trainierten, probten und spielten mit Naturtalenten, geschult an der Praxis. Broterwerb gab es anderswo. Große Stücke, literarische Programme, Arbeiterfestspiele, Dramen um den neuen Menschen – alles hat das Arbeitertheater Metallurgiehandel zu seiner Zeit mitgemacht.
Den Begriff “Kulturstraße” lernt man erst später aus dem Tourismus-Marketing-Rotwelsch der Destinationen und Alleinstellungsmerkmale … Doch mit welchen Zwängen und Wirkungen auch immer – dieser “Bitterfelder Weg” war eine Kulturstraße.
Schon als es um den “Bitterfelder Weg” längst ruhig geworden war, spielten einige aus Gewohnheit einfach weiter. Aus dem Leipziger Schauspielhaus gingen bis in die 1980er Jahre regelmäßig in Betriebe oder Kulturhäuser: Erich Giesa, Bert Franzke, Immo Zielke, auch Theaterhochschuldozent Bernd Guhr hatten ihre Spieler-Fans, Doris Schmude gab bei Rezitatoren Sprecherziehung. Für Veranstaltungen des Kulturbundes konnte man andere schnell begeistern: Werner Hahn, Siegfried Pappelbaum, Klaus Pönitz, Wolfgang Schmidt. Und Burkhard Damrau hat sein Schauspielerleben über mit Jüngsten und Jüngeren gearbeitet, und war zu eigener Anfangszeit auch beim Leipziger Arbeitertheater Metallurgiehandel dabei.
Vom Lachen über die Welt zum Leben auf der Bühne
Über die Zuschaukunst hat einst Bertolt Brecht philosophiert. Wer, auf der Bühne steht, lernt viel davon. Von der Veränderbarkeit der Welt, und sei es im Märchenspiel. Vom Lachen- und Weinen-Spielen auf der Bühne, dem Fragen nach den Gründen, warum gelacht oder geweint wird, haben die Arbeitertheaterspieler etwas mitgenommen für die Lebenskunst. Was einmal Schauspieler sind, die spielen immer weiter.
Nach wie vor wird gesammelt. Das Internet hilft mit! Denn fast vergessen war, dass Erich Giesa auch im DEFA-Streifen “Alarm im Zirkus” mitspielte, von Rollen in deutsch-sowjetischen Produktionen erzählen russischsprachige Datenbanken in Wort und Bild! Vergänglich sind die Leistungen der Schauspieler, Aufzeichnungen, ihre Namen und Besetzungslisten nicht.
Wer Erinnerungen an das Arbeitertheater Metallurgiehandel als Mitspieler, Mitstreiter oder Zuschauer hat, kann sich gern über die Redaktion L-IZ.de melden. Denn, auch ohne festen Spielplan: Die Truppe lebt noch, und sie spielt doch!
Keine Kommentare bisher