Wagners Ring des Nibelungen spielt teils auf dem Berliner Alexanderplatz, den Bühnenbildner Aleksandar Denic für Regisseur Frank Castorf ins Bayreuther Festspielhaus gebaut hat. Real wurde dieser Tage gerade wieder an Berlins zentralem Platz gemordet. Kurzes Schweigen erbeten.

Überhaupt finden sich scheinbar aktuelle Nachrichten auf der Bühne wieder, dabei muss es länger her sein, das Castorf das Geschäft mit dem Erdöl zum zentralen Thema machte, an Stelle sagenhaften Rheingoldes oder gar realer Aufsichtsratsposten von Global Playern und ihrer Gehälter. Jürgen Flimm hatte im Jahr 2000 die “Götterdämmerungs”-Geschäftswelt im Stahlskelett-Palast in Flammen aufgehen lassen, Qualmspuren sind im Festspielhaus noch immer an der Decke über der Vorbühne zu sehen. Ein Jahr später flogen Flugzeuge in New Yorker Wolkenkratzer.

Eine Idee mehr als Wagners jeweiliges Stück – hatte Festspielleiterin Katharina Wagner von potenziellen Inszenierungsteams gefordert. Den RING mit Waldidyll unter der Autobahnbaustelle oder die lebendige Götterwelt auf Dächern der Moderne gab es schon – nach Lars van Triers Absage ging der Berliner Frank Castorf an die Arbeit. Nostalgie und Romantik waren von ihn nicht zu erwarten, voriges Jahr war die Aufregung groß. Stellt sich ein Jahr später anderer Zauber ein?

Nicht ohne Vorspiel

Stress ist auch Werbung. Pünktlich vor Bayreuths Festspielen macht jemand Krawall oder sorgt wenigstens für Nachrichten. Regisseur Frank Castorf drohte der Festspielleitung mit seinem Anwalt Gregor Gysi, weil die Chefinnen einen Sänger ausgewechselt hatten, ohne den Regisseur zu fragen. Gab es denn etwa im Juli nicht aktuellere Bezüge zu Castorfs-RING-Variation? Die doch mit dem Thema Öl spielt, mit Stalin, Lenin, Texas, Baku und Berliner Alexanderplatz? Alles nur Theater, um der sofortigen Aufmerksamkeit willen?

Vor dem Festspielhaus stehen noch Prof. Ottmar-Hörls bunte Plastik-Wagner-Statuen, denen im Vorjahr ein anderes Kunstwerk die Schau stahl: weil an der Fassade Putz und Ziegel bröckelten, musste ein Gerüst aufgestellt werden. Schön dekoriert mit fotografisch hergestellter Fassade auf den Planen davor. Warum stehen diese Kulissen ein Jahr später immer noch? In der Zwischenzeit hat man die nötige Bausanierung des Hauses mit 30 Millionen Euro beziffert.

Manches bei den Festspielen ist anders als sonst, längst nicht mehr so viele Leute warten an der Abendkasse, zwar stehen Leute mit Zetteln “Suche Karte” bereit, aber genauso suchen Karteninhaber potenzielle Käufer. Als man Frank Castorf aus seiner Berliner Volksbühne herausholte, hat man gewusst, welcher Zauberer da auf die Bühne gelassen wird. Im Premierenjahr 2013 war die erste Reaktion der Radio-Kritikerrunde: “Es gab unendlich viel zu sehen.!” Ein Jahr später sieht der Kampf auf globalen Märkten anders aus. Politik macht Wirtschaft, Wirtschaft macht Politik, beide machen Staunen und Schrecken. Zwischendurch erklang der Begriff “marktkonforme Demokratie”.

Richard Wagner, Dresdner Revoluzzer, war im Leben nicht arm an Visionen, Tumult, Aufstand, steckbrieflicher Suche, Flucht vor Gläubigern, Und Flucht in die Kunst. Außerhalb seiner theoretischen Schriften überlasst er Denken, Sprechen und Handeln in seinen Werken historischen, sagenhaften und märchenhaften Figuren, die scheinbar aus Kinderbüchern stammen.

Erdöl statt Rheingold, Götter an der Tankstelle

Frank Castorf nahm Erdöl als den ultimativen Rohstoff an, das moderne Rheingold mit dem historischen Bezug geteilten Deutschlands und geteilter Welt. Erdöl wird direkt an der Börse verhandelt und gehandelt, fern von Märchen. Und doch tauchen da Badenixen auf, aber nicht im Rhein sondern an einem multifunktionalen Tankstellen-Shop-Motel mit Pool an der Route 66. An der Tankstelle und im Portemonnaie trifft jeden das Thema Benzin und das Thema Geld. Da kommen Limousinen vorbei und Wohnwagen, ein aluminiumsilbernes Gefährt wird durch die Zeiten mitgezogen. Man trifft sich zur Grillparty, lagert in Gartenstühlen, badet im Pool. Alberich liebkost die Quietsche-Ente. Im Tankstellenshop finden Personen nach ihrer Handlung Stärkung, auch Erda kommt zum Feierabend-Drink vorbei. Tarnkappe und Tierverwandlungen zeigen sich im Wohnwagen, Goldbarren werden umgestapelt.

So groß die Bayreuther Bühne ist, die Handlungen vieler raumgreifender Personen werden in ein kleines Hotel-Zimmer gestopft, nach dem Bettzeug und Matratzen aus dem Fenster geworfen worden sind.

Big Brother Castorf

Doch wir sehen auf der Bühne auch ein Film-Set, Kameraleute und Kameras sind immer dabei. Übertragungen live. Big Brother oder Reality-Soap. (Der DDR-Dramatiker Rudi Strahl hatte um 1980 so etwas für das Lustspiel “Vor aller Augen” erfunden, um den Alltag einer real-sozialistischen Familie “normal, alltäglich, exemplarisch” abzubilden.) Film auf der Bühne. Alles ist was fürs Auge. Erda erscheint im Hotelzimmer. Angekleidet wie Marlene Dietrich bei ihren letzten großen Auftritten. (Ein Zeitungsschreiber beschreibt es als “ehemalige Puffmutter”.)

Am Fahnenmast weht die Flagge von Texas, bis sie eingeholt wird, um die Regenbogenfahne zu hissen. Da kichern einige im Publikum. Jene Fahne und ein paar bunte Scheinwerferkegel auf die Bühnen-Wände genügen, statt göttlichem Brückensymbol eines Regenbogens, das den Weg nach Walhall bahnt. Hier singen und jubilieren die Götter auf dem Dach von Tanke und Motel. Höher hinauf geht’s nicht. Unten verschüttet jemand Benzin um die Zapfsäulen. Wenn die Musik die Götter nach Walhall führt, wird die Schrift “Golden Motel” eingeschaltet und strahlt in die Umgebung.
Warten auf Besonderes

In Bayreuth sitzen die personifizierten Erwartungen. Alle möglichen Erwartungen an das Besondere. Hier geht alles. Worum es geht, ist nicht die Frage. Es muss nur brüllend sein. Stumme Schreie inklusive. Es gibt unendlich viel zu sehen in Frank Castorfs Inszenierung im Bühnenbild des Film-Szenografen Aleksandar Denic. Vollgebaut hat er die Bühne, so breit und so hoch wie das Bühnenportal und die Darsteller bespielen es. Das heißt, sie haben viel zu tun, zu bewegen, zu gehen, in Kameras zu schauen und daran vorbei. Und auch noch zu singen.

Musikalisch gelingt eine Verblüffung: Irgendwie klingt das anders und punktuell lauter, was Kirill Petrenko da konstruiert. Bemerkt man es oder irrt man, gerade weil man schon Gelegenheit hatte, etwa in Reihe 25 seine Ohren in der Wunder-Akustik des Bayreuther Festspielhaus zu justieren? Wirkt es als zusätzliche Schall-Blende, was da auf der Bühne steht, eigentlich eine Überdachung der Scheinwerfer an der Rampe? Mit den Sängern scheint Kirill Petrenkos Orchester perfekt zu funktionieren, wenn – ja, wenn – man nicht abgelenkt wird, auf die Großaufnahmen auf Riesenmonitoren und Leinwänden zu schauen…

Und das ist ein Problem dieses RINGS. Hatte man die mythische-spielerische Version der 1990er Jahre von Regisseur Alfred Kirchner und Bühnenbildnerin Rosalie noch als “Designer-Ring” bezeichnet, geht der jetzige vielleicht als Video-Ring in die Geschichte ein. Oder als DDR-Ring. Wie das? Minol-Werbung und “Plaste und Elaste aus Schkopau – VEB Chemische Werke” leuchten grell von der Bühne ins Publikum.

Walküre zwischen Bergkulisse und Alexanderplatz

Götzenbilder an der Wand, nicht amerikanische Säulenheilige im Gebirge, sondern Marx, Lenin, Stalin, Mao, die sich auf ihre Art und Weise einen neuen Menschen erträumten. Treppen und Stege, oben ein Flaschenzug, unten der Wohnwagen, der mitgeschleppt wird, Behausung, Schutz und Trutzburg. Unterwegssein und Suche auf den Straßen des Handels und der Kriege. Jeder Tross hat eine Verwandte der Mutter Courage. Doch neben dem Gebirge lugt ein S-Bahn-Stationszeichen hervor, das Idyll hat uns hereingelegt, wir sind vielleicht nur im Berliner Plänterwald…

Wagners Umbaumusiken wurden schon am Vorabend genutzt, um Sängern in Liegestühlen Rast zu gewähren. Denn Aleksandar Denics Drehbühne schafft mit Drehungen, etwa in Achteln, immer neue Blickwinkel. Richtung S-Bahn-Schild geht die Bewegung auf den Alexanderplatz, dreidimensional gebaut, mit der Post und Briefkasten, daneben Müllcontainer, mit Straßenlaterne und Gastronomie. (Sorgsam gestaltet mit Deckchen auf Podesten und Spirituosenflaschen.) Wotan und Erda werden hier später noch speisen. Sie wechselt dann nur die Perücken, nach dem Schimpfen und vor dem neuen Einschmeicheln.

Der Kellner wird von jenem Mann gespielt der im “Golden Motel” im Tankstellen-Shop bediente. der Weltzeituhr. Einem DDR-Berliner-Wahrzeichen, Symbol aus dem Jahr 1969, die DDR war gerade 20 Jahre alt, der Prager Frühling war unlängst beendet worden. Wie man in Leipzig so sagt, war Bayreuth für den normalen Bürger damals so weit weg wie der Mond. Und der in Berlin geborene Frank Castorf war gerade 18 Jahre alt.

Wenn die Sänger ihre Zeit haben, sich miteinander zu beschäftigen. Dann, wenn endlich keine Kameras Big Brother übertragen, findet das Geschehen eine innere Ruhe. Beinahe will man sagen, göttliche Ruhe und Struktur ohne Chaos, aber es ist Wagners Plan, auch für die Sänger nicht frei von Pathos und mit Schwerstarbeit im Orchestergraben. Und da hat die Regie scheinbar auch Pause.

Schon im letzten Akt der “Walküre” taucht ein Bärenfell auf, lange bevor Siegfried das Bühnenlicht dieser Inszenierung erblickt. Als ob Requisiten die Handlung vorwärts zögen. Hier wird der Bär als Sklave an den Wohnwagen gefesselt. Es ist der Darsteller des Tankwarts aus dem “Golden Motel.”
Siegfried zwischen Erdölfeld-Werkstatt und Großstadt

Es hatte sich unter den Besuchern freilich herumgesprochen, Baku und Armenien sind die Koordinaten jener Förderstation mit Turm und Werkstatt, in der man dem Erdöl zu Leibe rückt. Wo nebenbei auch ein Schwert geschmolzen werden könnte, in märchenhaften Zeiten. Heute baut sich Siegfried eine Kalaschnikow zusammen, nach dem Vorbild einer anderen, mit beiden zieht er in den Kampf und erlegt den Drachen.

Der Riese, der Drache, der Moloch ist die Großstadt, ein Dschungel der Zivilisation. Ein Waldvogel, buntgefiedert wie Tänzerinnen des Friedrichstadtpalastes, besingt und betanzt Siegfried zwischen dem Grau der Treppen, Wege und Betonspitzen des Fernsehturmes. Lehrreiche Unterweisung für den Helden, bevor er – laut Wagner – mit Brünhilde erstmals eine Frau sieht. Wiederum auf dem Erdölfeld ist Platz für einen langen Schlaf Brünnhildes. Eines Feuerrings bedarf es nicht, ein einzelnes Ölfass genügt, das hier schnell zur Katastrophe führen könnte.

Vor Provokationen wurde schon am Saaleingang mit Aushängen und in Drucksachen gewarnt: “Wir weisen darauf hin, dass es im II. Aufzug zu einem lauten Bühneneffekt (Gewehrsalve) kommt. Entsprechende Schallmessungen ergaben, dass das Gehör der Besucher dadurch nicht gefährdet oder geschädigt wird.” So sieht Provokationsrealität 2014 in Bayreuth aus. Es tauchen Krokodile auf, doch nicht einmal da, wo man einen Drachen erwartet. Erinnert sich Castorf an eine DDR-TV-Schlagersendung zu deren Schlussapplaus – völlig zweckfrei – immer ein Tier gezeigt wurde? Oder ist es die Bühnen-Erinnerung, dass sich Star-Schauspieler die Mitwirkung von Tieren in derselben Vorstellung vertraglich verbeten hatten.

Erdöl, Plaste und Elaste

Sprach man früher, zum Beispiel unter Leipzigern, um 1990, noch vom Grauen und dem bunten Berlin, hat man sich später an alte und neue Anblicke gewöhnt, Ansichten und Fassaden haben sich verändert, Erinnerung vergoldet. Jedenfalls ist die Mauer noch da in jener kargen Ecke unter alten Wänden mit Resten früherer Häuser, mit einer Nische zwischen den Straßen, die abwechselnd als versteckter Zugang, als Gedenkort mit Kerzen, Obdachlosenasyl und Zelle benutzt wird. Nebenan Stapel von Getränke- und Gemüsekisten. Ein “Nicht-Ort” wie so etwas Tankred Dorst, Regisseur des früheren Bayreuther RINGS nannte. Dreht sich Bühne nur ein paar Meter weiter, dann scheint auch die Sonne in diese Ecke und durch die elektrisch erhellte Schrift “Döner Box” leuchtet das Geschehen wie der Jahrmarkt am Abend.

Nur eine halbe Bühnen-Drehung Berlins im Uhrzeigersinn weiter, ist die New Yorker Börse verhüllt, wie einst der Reichstag/Bundestag. Dazwischen weist eine bühnenhohe Treppe den Weg nach oben, unten, hinaus. Zwischen diesen Welten leuchtet, ja glüht in Gelb- und Rottönen noch die Werbung. “VEB Chemische Werke Plaste und Elaste aus Schkopau”. Neonleuchtstoffröhrenkunst mit Erinnerung an ein DDR-Kombinat und 18.000 Beschäftigte, die es laut Wikipedia-Firmenchronik waren.

Wie in zivil ist der Chor gekleidet, lautstark einstudiert von Eberhard Friedrich, personenstark wie immer in Bayreuth. Nach Siegfrieds Tod suchen die Zeugen das Weite. Beim Trauermarsch ist das Bühnenbild leer von Menschen. Siegfried wird in einer Plastikplane hereingebracht.

Wie nach Richard Wagners Textbuch löst sich die Handlung auf, zusätzlich wird der Verkäufer der “Döner Box” umgebracht, derselbe Akteur, der schon in der Tankstelle und am Alexanderplatz tätig war. Als Darsteller ist es Frank Castorfs Dramaturg Patric Seibert. Nachdem er in den Kofferraum eines Autos gestopft wurde, ist alles Ausklang. In ein brennendes Benzinfass wird der Ring geworfen. Ein bisschen Abendröte scheint am Bühnenaushang. Brünnhilde allein beschließt die “Götterdämmerung”, geht nach hinten ab und der graubraune Festspielhaus-Vorhang fällt.

Ohr und Auge

Kirill Petrenko hat scheinbar vier Abende lang Sänger und Bühnengeschehen behutsam begleitet, Punkt für Punkt auch orchestralen Drive zu- und losgelassen. Es bleibt ein klangliches Wunder, Sänger, Bühne und Orchester so auszusteuern, denn das Bühnenbild ist ohne Klangräume nicht hilfreich.

Wolfgang Koch schafft als Wotan ohne Speer und Göttervater-Gewand auch mit Spiel und Stimme Macht und Zweifeln Ausdruck zu geben. Fasolt und Fafner Wilhelm Schwinghammer und Sorin Coliban vermögen ohne Kostümaufbauten schon stimmlich riesenhaft zu wirken. Lance Ryan gelingt es, stimmlich bravourös und als Darsteller gerade in diesen Umgebungen eben mehr oder weniger nicht von dieser Welt zu sein. Jener Welt, mit der stimmlich-stimmigen Chaterine Foster als Brünnhilde keine Probleme hat – ihre große Szene wird klein, wenn sie sich fast ungesehen, wäre da nicht Video, zur Ruhe betten muss… Mit Alejandro Marco-Buhrmester gibt es einen Gunther, der optisch aufgedonnert, stimmlich einen wahrlich tiefgehenden Charakter schafft, neben der tatsächlich tiefen Stimme des Ledermantelträgers mit Irokesenfrisur von Attila Jun.

Adriana Braga Peretzki hat als Kostümbildnerin schon oft mit Frank Castorf gearbeitet, ihre Garderoben sind hier für jede Figur individuell, wie für Unterwegs-Befindliche, Reisende, Flüchtende. Nur die Rheintöchter brillieren im Gala-Event-Dresscode und Erda zeigt Eleganz – eine dem Marlene-Dietrich-Kostüm nachgemachte. Zunächst sind die Nornen unter Müllsäcken verhüllt, bevor sie edel erstrahlen wie Pralinenverpackungen. So fügen sich auch alle mannigfaltig in Aleksandar Denics naturalistische und doch symbolisierende Spielräume ein. Weder Laufsteg noch Schlachtgetümmel verheißen die Walküren-Kostüme, sondern Trachten wie vom Balkan und östlicher zitierend, es mögen die Familien sein, die den unterwegs gebliebenen oder kriegstoten Verwandten nachreisen.

So viel zu sehen

So schön gewollt Provokationen sind, man sollte sie optisch wahrnehmen können. Doch leider ist es oft zu finster auf der Bühne, undurchschaubar wenig beleuchtet. Kalauer: Statt Operngläser sind Nachtsichtgeräte zu empfehlen! Alles live eingefangene und aus Konserven eingespielte Video-Geflimmere scheint entbehrlich, bis auf jene Szenen, die hinter der Bühne spielen. Wo also nur per Kino zu sehen ist, wie sich ein freches Mädel aus Erdas Schminktäschchen Teile nimmt und im BH versteckt oder der Döner-Box-Verkäufer Geldscheine ins Hemd packt.

Castorf als Regie-Anarchist? Seine Zeiten in Senftenberg und Anklam sind lange her. Mit der Berliner Volksbühne ist er Institution geworden. In Bayreuth ist er längst kein Anarchist mehr. Ein Salonlöwe im Festspiel-Format. Allein die Presse-Schlagzeilen der Festspielzeit 2014 übertrumpfen Castorfs Erdöl-Symbolik. Handelsembargo gegen Russland, Einfuhrstopps Russlands gegenüber anderen Ländern. Aufsichtsratsposten wechseln, Rankings von Gehältern und Zulagen, Millionen- und Milliardensummen an Wirtschaftsstrafen werden mit Rückstellungen vorbereitet…

Rückwärts durch Bilder und Handlung dieses RINGS geschaut, ergibt ist noch ein anderer Blickwinkel. Gescheiter ist die Welt nicht, gescheitert sind vor längerem die Ideen vom neuen Menschen. Brünnhilde kann selbstgewählt allein abgehen, diese Bühne verlassen. Zuvor wurde die New Yorker Börse enthüllt, deren Geschehen, wie das in Banken schlechthin, undurchschauber-unsichtbar war, von denen eine namens Lehmanns aus dem Finanzgetriebe wie eine Karte aus dem Kartenhaus herausgezogen worden war…
“Ironie ist Geschmeidigkeit”

Auf dem Alexanderplatz wühlen die Menschen in Papierkörben. Dem Stationsschild ist das “A” abhanden gekommen, womöglich ist es zum Arbeitsamt gegangen… Neben der Gebirgskulisse mit Götzenbildern, es kann das DEFA-Gelände Babelsberg sein, wo schon das S-Bahn-Schild des Alexanderplatzes zu erblicken war. Und weiter zurück guckt man in eine goldene kapitalistische Welt, voll kleiner Ganoven, wie man sie in der DDR aus alten Western-Filmen und am allergefälligsten aus der Filmkomödienserie der “Olsenbande” kannte. Oder gar aus dem Westfernsehen.

Doch das ist satirische Deutung. “Satire ist keine, wenn sie sofort jeder versteht”, heißt es unter Kabarettisten. Frank Castorfs Team allerdings zitiert im Programmheft Vladimir Jankelevitch von 1964: “Ironie ist Geschmeidigkeit, das heißt extremes Bewusstsein. Sie macht uns, wie man sagt, auf das Wirkliche aufmerksam und immunisiert uns gegen die Engstirnigkeit und die Entartungen eines unnachsichtigen Pathos, gegen die Intoleranz eines ausschließlichen Fanatismus.”

Moderner Mythos?

Einen modernen Mythos sucht man hier vergebens. Aber einen modernden Mythos findet man! Eine mythische Moderne wäre etwas ganz anderes. Fürchtenlernen ist Siegfrieds Sache. Furchtlosigkeit bleibt Traum. Ehrfurcht vor Wagner hat Pause, spätestens seit an der Villa Wahnfried Baufahrzeuge zwischen Gräbern und Terrasse kreisen, an Stelle des Brunnens Baufahrzeuge parken. Am Toilettencontainer für Baustellen-Touristen weisen allerdings die Aufschriften für “Walküren” und “Nibelungen” die Wege. Und Richards Gipsbüste im Villa-Wahnfried-Fenster trägt einen Baustellenhelm. Arbeitssicherheit geht alle an.

Leipzigs “Götterdämmerung” des Jahres 2013 in der Inszenierung von Joachim Rathke und der vielfach bestaunten musikalischen Umsetzung durch Dirigent David Timm, sein Orchester, Universitätschor und Solisten, zeigte die Handlung mit den Personen der Familie Wagner bis zur jüngsten Bayreuther Generation. (Freilich schwebten da auch fragwürdigerweise Luftballons und an einem projizierten Bild vom Bayreuther Festspielhaus züngelten Flammen.) Frank Castorfs Erdöl-RING ist ein Kunstwerk an sich, das hoffentlich auch aufgezeichnet und dokumentiert wird.

Bayreuths Welt dreht sich in Jahresringen weiter, und doch schnell. Schon hat die nächste RING-Produktion Jahreszahl und Regie-Namen. Und nächstes Jahr gibt es “Tristan und Isolde” von Wagner-Urenkelin Katharina Wagner inszeniert live und dann auch übertragen in Kinos weltweit. Eine nun schon gewohnte Verbreitungsweise. So was wurde vor über 100 Jahren, einige Jahre nach Richard Wagners Tod, aber ohne Wagner-Bezug als Zukunftstraum formuliert und in einem Buch gedruckt.

Mit “Parsifal”, von Jonathan Meese inszeniert, und später dem Leipziger Neo Rauch als Bühnenbildner für “Lohengrin” kommen wieder bildende Künstler in Bayreuth zum Zuge. Premierenrhythmus, Laufzeiten der Inszenierungen und Zahl der Vorstellungen scheinen sich nicht zu verändern in der verlängerten Amtszeit von Katharina Wagner. Ihre gewagteste und umjubelte Erfindung ist die Serie “Wagner für Kinder”, die nun schon die siebente Saison erlebte.

Meinungen, Gespräche:

“Heute sind es knapp Stunden. Und dann noch drei Mal fünf Stunden.” – “Aber ?Figaros Hochzeit’ geht doch auch schon vier Stunden!”

“Ich habe den Eindruck, dass Castorf mit seinem Land DDR noch nicht abgeschlossen hat, das ihm da immer noch was fehlt! Castorf kann die DDR nicht lassen.”

“Das Machtverhältnis von Mime und Siegfried wurde auf den Sklaven projiziert.”

“Da kieken aba die Wachnerjaner! Nu is Wachner in Bayreuth ein Balina!”

“Aus so einer Produktion ist die Luft dann schnell raus, also wenn man es einmal gesehen hat…”

“Nun ist aus der Welt-Esche die Weltzeituhr geworden!”

“Was wurde da eigentlich hergestellt in Schkopau?” – “Da wurde mal der synthetische Kautschuk erfunden. Und dann alles was man Plaste und Elaste nennt…”

“Der Frank Castorf kann sich seine DDR nicht abgewöhnen!” – “Seien Sie doch froh, dass das noch so ist.”

“Gab es vielleicht mal in Berlin eine Wette zwischen Neuenfels, Baumann, Gloger und Castorf, welche Ideen in Bayreuth überhaupt gehen und wie lange sie halten? Lohengrin-Ratten, Tannhäuser-Bunker, Holländer-Ventialtorenfabrik, Alexanderplatz-Ring?”

Aus Internetforen:

“Der RING ist ne geile Show!” – “Eben mehr Castorf, weniger Wagner.” – “Mit dem Götterdämmerungsschluss geht das alles auf.” – “Was 2013 noch satirisch war, ist 2014 bitter-grotesk.” – “Hat Putin Castorf überholt?” – “In Berlin sollte Lenins Kopf wieder ausgegraben werden – aber das Geld fehlt. Und Karstadt geht für 1 Euro weg.”

“Dieser RING ist weder satirisch noch grotesk. Es ist eine bunte Allerlei-Inszenierung, die durchaus gefallen kann – wenn den ein passendes Stück dafür gefunden wird. Castorf ist die Oper (auch die Oper an sich) herzlich egal – er zeigt das und suhlt sich arrogant in der Ablehnung. Käthchen Wagner nennt das dann aufwühlende Kunst…. Uäh….”

“Da, wo das Libretto eher dialogisch angelegt ist, und ein spielfreudiges Ensemble auf der Bühne stand, – d.h. v.a. im ?Rheingold’ – fand ich es wunderbar, kurzweilig, unterhaltsam. Bei den langen Berichten und Monologen, ist ihm nicht allzu viel eingefallen. Dadurch geriet vieles schlicht weg zu altmodischstem Rumgestehe. Ohne die tollen Bühnenbilder hätte man sich zu Tode gelangweilt. Da ich mir von den verquasten RING-Texten sicher nicht die Welt erklären lassen möchte, andererseits aber die Musik sehr mag, kann ich die generelle Ablehnung seiner Arbeit nicht teilen.”

Weiterlesen:

Heinz Krejci, “Siegfrieds Kalaschnikow: oder Der missachtete Wagner”, Verlag MANZ’sche Wien,

Anmerkung: Werktreue versus Regisseurtheater. Eine Opernführer-Beschreibung zu Wagners Werk und eine Auflistung der entdeckten Frank-Castorf-Erfindungen der Bayreuther Inszenierung. Dazu Fragen: z. B. Muss man Wagner modernisieren, um ihn lebendig zu halten?

Szenenfotos:
http://www.richard-wagner-werkstatt.com/inszenierungen

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