Um 18:30 Uhr schlug die "Demokratie-Glocke" auf dem Augustusplatz, jenes bronzene Ei, dass der Verband der Gießer Mitteldeutschlands den Leipzigern ins Nest gelegt hat. Frage sich jeder selbst, was ihm diese Stunde gerade geschlagen hat. Wir sind das Volk? Volkes Wort im Rathaus? Oder ist man dort mit sich selbst beschäftigt, wie sprichwörtlich "...zu tun wie ä Leibzger Rat!"
Kurz vor 19:00 Uhr steigt in Reihe 11 ein junger Mann vom Gang über die Rückenlehne zu seinem Platz, gerade noch rechtzeitig, um die Ballett-Premiere zu sehen. Auf dem Vorhang ist Edward Munchs “Schrei” skizziert, wenn er oben ist, wird ein weiterer “Schrei” als Prospekt sichtbar.
Zimmermann und Scholz
Vor gut 20 Jahren hatte ein Ballettabend von Uwe Scholz Premiere, ein Teil war “Pax” mit der Musik von Udo Zimmermann, damals Intendant der Oper, und man wies darauf hin, dass im Jahr 1993 in Leipzig 300 Jahre Opernhaus zu feiern sei, das drittälteste seiner Art in Deutschland. Der Bundeskanzler übernahm den Vorsitz eines Kuratoriums. Geschichte, Chronik.
Mario Schröder war damals Solist, nun ist er Ballettchef und Choreograf. Heute tanzt eine internationale Company mit Tänzerinnen und Tänzern, die vor 20 Jahren kleine Kinder waren. Sie alle, “ganz gleich aus welchem Kulturkreis sie kommen”, schreibt Ballettmeister Matthew Bindley, ein Australier, in der Opernzeitung “Dreiklang”, haben schon am eigenen Leib erfahren, was es heißt, sich in einem neuen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und sozialen System zu finden.”
“Es ist zur Stunde Krieg in der Welt”, mahnte Komponist Udo Zimmermann damals zur Pressekonferenz, wie sie noch vor jeder Premiere stattfanden. Jenes Ballett “Pax” gab es Jahre später in der Ruine des alten Gasometers an der Richard-Lehmann-Straße, alles war Provisorium, durch die desolaten Fenster schien die Abendsonne herein. Heute wird dort in saniertem Bau die Panometer-Ausstellung 1813 gezeigt.
In Leipzig jüngster Ballett-Premiere machte Mario Schröders Choreographie den Anfang. Er will nicht nur anknüpfen an das Vorbild, sondern zitiert Details aus Uwe Scholz’ Tanzsprache, er kann ja selbst insgesamt zurückblicken, in seinem Stück und mit beiden Werken. In Scholz’ Schritten und Bewegungen, von Schröder durchlebt, transponiert in neue Tänzerinnen und Tänzer, wie bei Scholz auch bei Schröder mit artistischen Perfektionen.
Schuhe als Symbol für Schritte und Menschen
Schuhpaare in vielen Farben stehen anfangs auf dem Bühnenboden, grob in Reihen geordnet. Wo Schuhe sind, waren Menschen, wo Arbeitsplätze waren sind Fußstapfen erhalten. Mario Schröders Vorschlag für ein weiteres Denkmal der deutschen Einheit in Leipzig? In einer Scholz-Arbeit zog das Ballett am Ende die Schuhe aus und stapelte sie vor dem Publikum.
Videobilder zeigen die Kundgebung vorm Opernhaus, Bundeskanzler Helmut Kohl hatte gerade von den Blühenden Landschaften gesprochen, in diesen Tagen wurde sein Zehn-Punkte-Programm verkündet, dass bis zur Währungsunion reichte.
Musikalisch sind wir an diesem Abend in vielen Traditionen unterwegs. In “Pax Questuosa” ist Chor als Kommentator wie in der antiken Tragödie eingesetzt, teils in klaren Tönen, teils als Klangkulisse, Soundmaschine. Dazu Solisten, geführt wie im Oratorium, darbietend Texte von Franz von Assisi bis hin zu Autoren des 20. Jahrhunderts.
Landschaften mit Blüten
Mario Schröder nennt sein Ballett “Blühende Landschaften”. Und belässt es beim großen Gestus, ohne auszuformulieren, welche Arten von Blüten da zum Vorschein kommen konnten… Er selbst hat zur DDR-Zeit die Tänzer-Ausbildung, das Engagement in Leipzig, seine Laufbahn bis ins Solo und seine ersten Choreographien auf den Quadratmeter genau hier erlebt. Gruppe, Trio, Paar, Verschmelzung und Vereinzelung betreibt Schröder wie Scholz.
Uwe Scholz, gebürtiger Hesse, kam über Stuttgart und Zürich nach Leipzig zu einer damals noch größeren Riesen-Company, Ballettschule dazu. Reprisen früherer Choreographien, mit “Pax” erstmals Neues, ein Zeitstück für das Leipziger Ballett, das eine internationale Besetzung erlebte, von der andere Berufe und Branchen heute träumen. Wenn schon “Blühende Landschaften”, dann ist es das Wachsen der Leute. Ungeahnte Freiräume nutzend, oder dafür kämpfend. Mario Schröder hat dabei Beharrlichkeit entwickelt. Es ist seine Eigenart, keine Solisten namentlich im Programmheft zu benennen.
Am Tag nach der Premiere wird im Radio davon die Rede sein, dass es in “Ostdeutschland” so gut aussehe, wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr auf Grund der “Reindustrialisierung” (Zitat Radio-Nachrichten).
Udo Zimmermann, dem es in seinen Werken, wie er selbst sagte, “immer um Existenzielles geht”, brauchte dazu vor allem Zeit, die er als Intendant in Leipzig und später in Berlin kaum hatte. Er war lange genug Komponist und Dirigent seiner Werke, um ein Orchester fahren zu können. Für Momente, wir der Gesamtklang von Orchester oder Chor wichtiger als alle Details. Zuvor und zuletzt bezieht er seine Musik auf den Klang von Glocken. In den Orchesterebenen sind Strukturen vorhanden, die man von Philipp Glass kennt, bei ihm dann anders verarbeitet.
“Visafrei bis Hawaii”
Schon bei Uwe Scholz spielten Losungen keine Rolle mehr, erinnert sei an “Visafrei bis Hawaii”, “Egon wir wollen Taten sehn, dass nicht noch mehr nach’m Westen gehen” oder “Kommt die D-Mark nicht zu mir, gehe ich zu ihr”.
Bei Zimmermann, Scholz und Schröder wird künstlerisch-poetisch verhandelt, was der Begriff Freiheit körperlich bedeutet, sei es die Einsicht in Notwendigkeit, das Recht, Dinge nicht tun zu müssen, Freiheit als einen Zwang zu erleben, den wir nicht als solchen erkennen, die Reisefreiheit, so weit die Kosten und Gesetze tragen, oder die Freiheit, so zu arbeiten wie andere Urlaub machen…
Der junge Mann in Reihe 11 applaudiert stehend ein paar Sekunden, steigt dann über die Rückenlehne und eilt davon.
Udo Zimmermann kommt auf die Bühne, langsamer als früher, gebeugter, Intendanten-Amtsnachfolger Ulf Schirmer bringt Blumen, Zimmermann dankt Sängern und Tänzern mit Handschlag, dann dem Publikum, wie zur Vorsicht steht Mario Schröder hinter ihm.
Als der Applaus verebbt ist, ruft eine ältere Männerstimme aus dem hinteren Parkett “Bravo, Uwe!”
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