Wie Bäume wachsen durch die abendländischen Kunstepochen ein paar Figuren, Themen und Konflikte, sie setzen Jahresringe an, bilden Borke und Blätter aus, und lassen sie wieder fallen. Wo der Borkenkäfer nicht mehr satt wird, naht der Holzwurm... Hans Faust ist so ein Symbol, dazu der Teufel und der Pakt zwischen beiden. Mag auch in den Kunstwerken mal der eine, mal der andere die führende Rolle übernehmen.

Egal, wie er wirklich hieß, jener angeblich um 1480 in Knittlingen geborene. Michail Bulgakow erzählt im Roman auf so vielen Ebenen, dass es heutigen Filmdramaturgen dabei schwindlig werden dürfte. Bulgakow lässt seinen Meister als Dichter einen Pakt mit dem Schriftstellerverband eingehen. Den echten Michail Bulgakow brachte der Pakt mit der Kommunistischen Partei in Teufels Küche, so unterrichtet uns das umfangreiche Programmheft. Denn auf der Bühne versucht es Regisseur Jochen Biganzoli gar nicht erst mit Moskauer oder russischen Anklängen. Iwan Besdomy behält seinen Namen auf Russisch, möglichen und metaphorischen wäre Iwan Hauslos gewesen…

Von Leipzigs “Meistersingern” zum Meister-Roman

Kommt der Begriff “Literaturoper” auch selten vor, er scheint wie für diese Verknüpfung der Werke gemacht. Jochen Biganzoli, einst Assistent bei Peter Konwitschny, hatte in Leipzig Richard Wagners “Meistersinger von Nürnberg” inszeniert. Nur kurz war die Aufführung im Repertoire, die für einen Akt eine schöne Bühnenbildidee hatte: Zitate aus dem Libretto waren wie Losungen an die Wände der Guckkastenbühne geschrieben.

Allerdings nahm der Regisseur den 50. Geburtstag des Leipziger Opernhauses, das 1960 eben mit den “Meistersingern” eingeweiht worden war, wörtlich: Im ersten Akt lieferte man ein großes Westpaket mit dem essbaren Sinnbild einer Burg. Und im Schlussakt wird dieses Kuchenstück genüsslich aufgeteilt und verzehrt. Zwischendurch saß Hans Sachs am Tisch und trank eifrig Schnäpse aus.

Strahlend weiße Bühne, hell ausgeleuchtet mit sogenannten Entladungslampen, keine Lichtkegel sichtbar, ein White Cube, clean oder klinisch rein. Erst im zweiten Teil erstrahle in Meisters und Margaritas Wohnung punktuell stimmungsvolles Licht.

Im weißen Kubus von Bühnenbildner Johannes Leiacker fährt die Rückwand kontinuierlich nach links, gelegentlich kommen Türen vorbei. Später werden die Wände gerückt, die Zelle wird enger. Außen zeigen sich Metallkonstruktionen, fern erinnernd an Bühnenbauten-Stilisierungen aus dem russischen Konstruktivismus. Also doch was Russisches! Und der Kunst-Begriff der “weißen Architektur” stammt aus der Zeit von Bulgakows Arbeit.

Ein Meister, drei Akteure

Nicht ein Meister erscheint, gleich drei, und sie teilen sich in den Monolog. Es werden noch mehr werden, wenn sich der Meister tänzerisch auflöst. Dichters Arbeit, Parteien-Politik, Varieté, Jesus und Pontius Pilatus sind die Spielebenen.

Michail Bulgakow hat sein literarisches Sinnbild “Der Meister und Margarita” nicht mehr als gedruckte Auflage erleben können, da hatte die sowjetische Wirklichkeit Dichters Deutungen und Phantasie überholt. Bewahrheitet hat sich eine im Roman zitierte Weisheit: “Manuskripte brennen nicht”. Heute ist der Roman ein Klassiker und rund 30 Theateradaptionen gibt es von ihm..
Da geht es um Vergänglichkeiten – die ein Faust negieren, überwinden kann. “Manuskripte brennen nicht” vermag man als Drohung, Zauberformel oder Allgemeingut auszustellen und auszusprechen oder als Beiläufigkeit zu besingen. Musik geworden jetzt in der Hamburgischen Staatsoper, gesprochen einst auch in Leipzigs Schauspielhaus.

Dietrich Henschel singt und spielt als Meister auch den Jeschua, Cristina Damian seine Freundin Margarita, die beim Satansball zur Königin wird. Derek Welton ist der schwarze Magier Voland, Andreas Watts der Kater, als Pontius Pilatus wie auch als Arzt setzt Tigran Martirossian jedwedem Treiben die Grenzen.

31-Ton-Musik plus Electronics

Marcus Bosch und die Hamburger Philharmoniker haben Schwerstarbeit an den Pulten zu leisten. Einst hatte die Staatsoper Hamburg das Werk 1984 beim Komponisten York Höller in Auftrag gegeben, es wurde aber nicht pünktlich fertig, die Intendanz wechselte und die Uraufführung gab es unter Regisseur Hans Neuenfels in Paris, 1991 dann in Köln.

Jetzt erst kamen “Der Meister und Margarita” in Hamburg an. York Höller hat aus Arnold Schönbergs Musik der Zwölf Töne einen 31 Töne umfassenden Kosmos gemacht, Dass das für untrainierte Ohren klingen kann wie das Einstimmen der Orchestermusiker vor der Vorstellung, nimmt das Programmheft vorweg. Im Programmheft schreibt man von melancholischem Pop, analogem Dubstep und Kollaborationen im Zwischenbereich von elektronischer und akustischer Musik.

York Höller kommt als Schüler von Bernd Alois Zimmermann auch aus der Schule elektronischer Musik von Karlheinz Stockhausen, als die Musikcomputer Kunst und Künstlern weniger Möglichkeiten boten als heute, also mehr Handwerk übrig ließen.

Saal und Publikum – teils von Darstellern unterwandert – spielen öfters mit. In der Varieté-Szene begrüßte einer vom Fach und aus der Hamburger Szene als Conférencier das Publikum, Corny Littmann.
Wann immer Geld, oder was dafür gehalten wird, vom Himmel fällt, strecken sich die Arme empor. Wo alte Kleider gegen Neues eingetauscht werden können, strömen die Modebewussten, und wenn es sich um den letzten Schrei handelt.

Vom Teufelsball dringt nicht viel in den weißen Klinik-Raum, als Prospekt dient von Hieronymus Bosch ein Bild aus der Welt seiner Geister, Ängste und Hoffnungen. Da ist das Methode: Aufgedrehte Karnevalsfiguren davor, tänzerisch mehr Ball als Ballett, darin eine Tänzerin in graziler Hebung über ihrem Partner. Zum Schluss ist auch der Meister am Ende, wie gekreuzigt steht er vor der Wand.

Moskau, Leipzig, Brno …

Mitte der 1980er Jahre kamen in DDR-Theatern nach vielen anderen russischen und sowjetischen Dramen mehr oder weniger agitatorischen Charakters Geschichten mit großen Bögen auf die Theaterbühnen, man erinnere nur an den Romanautoren Tschingis Aitmatow! In der russischen Steppe wurden weltläufige Philosophien verhandelt, die im real-existierenden Alltag gerade hinter den Losungen und Ehrentribünen versteckt worden sind. Mit der Proklamation “Man kann sich sein Erbe nicht aussuchen”, tat man genau das.

Da gab es in Leipzig nach Goethes “Faust”, abgespeckt als Theater auf dem Theater, und ein paar Jahre später die Bulgakow-Bearbeitung “Meister und Margarita” von Heinz Czechowski und in der Regie von Karl Georg Kayser mit allem was der Bühnen-Zauber an Stoff, Schnürboden, Versenkungen so hergab. Gespielt viele, sehr viele Male. In des Dichters Stube begann die Lampe zu schwingen, im großen Bogen pendelte sie hinauf, der Spuk begann und führte durch reale und satanische Welten bis in die Psychiatrie. Zwischendurch nahmen mit Weihrauchfass, Kreuz und Bibel weiße und eine Schar schwarzer Priester die Spielfläche ein.

In den Oktobertagen 1989 gastierte Leipzigs Schauspiel in der Partnerstadt Brno. Es waren vorab im ungewissen Sommer schon Fragebögen ausgefüllt worden, für den Fall, dass man ein Visum brauchen würde. Was dann nicht mehr der Fall war.

Zwei Aufführungen gingen mit donnerndem Applaus zu Ende, das ganze Ensemble inklusive Technikern und Statisterie ward zu einem Empfang in festliche Halle geladen. Und nach der Rückfahrt an einem Montagabend nach der Demonstration rollten die Tour-Busse über den Leipziger Ring.

Moskauer Drama in Hamburg ohne russische Seele

Erwähnt sei die Neugier darauf, wie Biganzoli nach den Leipziger “Meistersingern von Nürnberg” nun das Moskau Bulgakows bebildert. Er tat es gar nicht, sondern lässt alles im unrealen weißen Raum ablaufen. Da bleibt nichts von russischer Seele übrig, was auch immer man dafür hält. Gewaltige Dinge der Sowjetmacht gerinnen zur Bedrohung des Individuums.

In Hamburg waren nach der Pause nicht mehr alle Plätze besetzt, es gab allerhand Applaus, das Publikum wusste des Einsatz für dieses Theater aus dem musikalisch-mathematisch-physikalischen Salon zu schätzen. Den anwesenden Komponisten freute alles, er verbeugte sich vor Bühne und Publikum, Schauspieler Gustav Peter Wöhlert im Publikum, sonst auch hier auf der Opernbühne tätig, rief ein paar Mal laut “Bravo!”

Wer an den Verhältnissen nicht zweifelt, wird den Teufel nicht versuchen. Dass der Pakt mit dem Teufel auch den Teufel verändern möge, bleibt eine irreversible aberwitzig renitente Hoffnung.

www.hamburgische-staatsoper.de

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