In Reihe 2, links, hat die Mittvierzigerin ihren Apfel noch gar nicht aufgegessen, da wird es dunkel und die 23. euro-scene Leipzig beginnt. Igor Strawinsky steht auf dem Programm, "Das Frühlingsopfer". Im Winkel aufgebaute Wände reichen bis an die Rampe und nach hinten, eine Darstellerin erscheint. Tonakzente und Geräusche statt Musik.

Herzschlag und Atemfreuqenz bestimmen den Rhythmus, beabsichtigte und geplante Hyperventilation nannte es der Choreograph im Gespräch, den Ablauf hat die Tänzerin im Kopf. Ein zweiter Tänzer kommt hinzu, Duette aus Berührungsängsten und Berührungen, Verfolgung, Gefangennahme, Opferung. Alle Täter und Mittäter bleiben unsichtbar.

Soweit Teil 1 mit Tamar Shelef und David Wampach aus Montpellier. Zwei weitere Stücke folgen. Allesamt haben sie Igor Strawinskys “Le sacre du printemps” zum Vorbild, als Anlass oder zur Compagnie-Choreographie genommen.

Drei Gastspiele = eine Premiere

Nie sind die drei Truppen vorher an einem Abend gemeinsam aufgetreten, die euro-scene Leipzig hat sie erst miteinander bekannt gemacht. Im Schauspielhaus ließ sich so was bewerkstelligen, mit normalen Theaterpausen drei Szenenbilder bühnentechnisch und in der Beleuchtung einzurichten. Dort ist auch Werner Stiefel Abenddienstleiter im Vorderhaus, der 1981 in Leipzigs Ballett Solist bei “Le sacre du printemps” im Opernhaus war, neu choreographiert von Dietmar Seyffert für großes Ensemble, auf der ganzen Bühnentiefe, geschätzt alle verfügbaren Tänzerinnen und Tänzer waren beteiligt.

euro-scene Leipzig kehrt ins Schauspielhaus zurück

Nach der Vorstellung am Dienstagabend gab es Sekt und Reden für alle im Schauspielhausfoyer. Festivaldirektorin Ann-Elisabeth Wolff begrüßte und dankte allen Helfern.

“Ein Musikstück, Theater in drei Versionen – dazu braucht es ein Festival”, sagt Torsten Buß, stellvertretender Schauspielintendant. “Die euro-scene Leipzig ist 23 Jahre alt, wir sind erst seit 10 Wochen da, die Platzverhältnisse sind klar!” Gewiss gefällt das der Festivaldirektion, denn der vorhergehende Intendant hatte kein Interesse, dass jemand anderes international Extravagantes in seinem Haus zeigt. Am Vormittag hatte Schauspielintendant Enrico Lübbe in Wort und Tat dem Festival die Türen geöffnet und sprach von eigenen früheren euro-scene-Erlebnissen.

Opfer-Innenleben, Opfer und Aufopferung
Teil 2: Tero Saarinen, Helsinki “Hunt” – mit sinfonischer Musik aus der Konserve. Scheinwerfer im Kreis angeordnet, wie im Energiefeld eines Steinkreises, bilden den Feind. Hier sprühen die Funken und Blitze. Offen bleiben Fragen und Distanzen zwischen Opferung, Aufopferung, Selbstopferung und Ausweglosigkeit.

Im Programmheft kategorisiert die Festivaldirektion: Tero Saarinen verwendet Butoh-Tanz, fernöstliche Kampfkünste, klassisches Ballett und moderne Tanzformen. Seit 2002 hat er seine Version bereits 170 Mal in 32 Ländern gezeigt.

Videoprojektionen treffen auf das Kostüm, die Leinwand ist die Kleidung und zeigen bewegte tänzerische Szenen, vervielfältigt und modifiziert. Ein außerordentlicher Fall des gelungenen Einsatzes von Videotechnik mit Potenzial zur weiteren Inszenierbarkeit, man denke an Kostümprojektion in Figuren-Serien und ganzen Ausstattungen.

Großes Kino

Teil 3: Compagnie Georges Momboye, Paris. Ein Tänzer ist erkrankt, kurzfristig springt der Choreographie-Assistent ein und rettet die Vorstellung. (Darauf ein Bravo!)

Man ist von Strawinsky ausgegangen und bei ihm angekommen. 12 Akteure schleichen sich im Dämmerlicht ein, in gleißender Helligkeit werden sie das Opfer erwählen müssen. Musik und Bewegungen sind passgenau, die Kräfteverhältnisse ebenso. Aufstellung, Kampf, Selektion, Auswahl, Opferung in Vorgang, Ausführung und Reflexion. In Angst – denn es wird wieder einen Frühling geben. Eine multikulturelle Truppe, muskeltrainiert, temperamentvoll bis in den langen Schlussapplaus im ausverkauften Schauspielhaus.

Avantgarde als lebendiges Museum

Museumsdienste am Erbe von klassischem Ballett und Tanztheater zu machen, gar an Jubiläen zu erinnern, müssen nicht Aufgaben eines Festivals moderner darstellenden Kunst sein. Frage sich eine sogenannte Musikstadt, wo sie ihre Theatersammlungen hat, wo sie sie vergessen hat, oder versteckt hält.
Um so besser kann es funktionieren, wenn abgesprochen ist, wie geschehen, dass das Leipziger Ballett im Opernhaus vorerst kein “Frühlingsopfer” herausbringt.

Vor gut 20 Jahren schwelgten im euro-scene-Publikum Diskussionen um den Begriff Avantgarde und ob dieses eine und bestimmte Gastspiel dazu zu zählen wäre. Irgendwie waren die Streitereien dann aber auch mal zu Ende. Da macht es jetzt Sinn zu grübeln, warum, wann und wie zu Entstehungszeiten etwas zur Avantgarde geworden ist.

Tatort Paris, Tatzeit: 29. Mai 1913. Bei der Uraufführung geriet die Choreographie von Waslaw Nijinski zum Spektakel und Tumult im Publikum. “Die tänzerischen Darbietungen sollen durch die archaisierende Choreographie auch die Tänzer überfordert haben und beim Publikum den Eindruck eines barbarischen Chaos hinterlassen haben. Nijinsi musste hinter der Bühne den Takt laut angeben, um Musik- und Tanzrhythmen zu synchronisieren; am Ende soll es etliche Knieverrenkungen gegeben haben.” Quelle: “Kulturspiegel des 20. Jahrhunderts, Braunschweig 1987.”

Noch mehr “Le sacre du printemps”

Am Donnerstagnachmittag zeigt das Passage-Kino in der Hainstraße Filme zu “Le sacre du Printemps”, auch die Aufzeichnung der Choreographie von Dietmar Seyffert mit dem Ballett des Leipziger Opernhauses aus dem Jahr 1981.

“Schwarze Milch” ist das Festival überschrieben, 148 Künstler sind beteiligt, 12 Gastspiele aus 11 Ländern werden bis zum 10. November in 24 Vorstellungen auf acht Spielstätten gezeigt. Freitag bis Sonntag gibt es die Endrunden im 11. Wettbewerb um das “Beste deutsche Tanzsolo”

Tickets an der Festivalkasse im Englandladen, Gottschedstraße.

www.euro-scene.de

Anhang: Gertrude Stein schrieb über die ersten Aufführungen des Balletts “Le sacre du printemps” 1913: “Aber das Barbarische findet auch seine Liebhaber, die wohl annehmen, hier werde ihnen slawische Ursprünglichkeit dargeboten.” Der Kritiker E. Vuillermoz notierte: “Den sacre du printemps analysiert man nicht: man unterwirft sich ihm, je nach Veranlagung mit Schaudern oder mit Wollust.” Quelle: “Kulturspiegel des 20. Jahrhunderts”, Braunschweig 1987, Seite 150.

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