Jeder fünfte Neonazi ist heute weiblich. Jede zehnte rechte Straftat geht auf das Konto einer Frau. Choreograf Christoph Winkler erforscht in seinem Tanzstück "Rechtsradikal" die Persönlichkeit von Neonazistinnen. Ein starkes Stück Theater. Das Interesse an der gestrigen Premiere war verhalten: Die Hälfte der Stühle auf der kleinen Lofft-Bühne blieb leer. Dabei ist Winkler nicht irgendwer.
Der Choreograf erarbeitet sich seit Jahren erfolgreich Themen, die einerseits innerhalb der Kunstform stehen, andererseits aber auf aktuelle Diskurse in der Gesellschaft hinweisen. In “Dance! Copy! Right?” erörterte Winkler zuletzt den Dissenz von Urheberrecht und Raubkopiererei. Sein Solo-Abend “Baader – Choreografie einer Radikalisierung”, der 2012 während der Tanzoffensive im Lofft zu sehen war, brachte seinem Tänzer Martin Hansen den Titel “Tänzer des Jahres” 2012 ein.
In “Rechtsradikal” erforscht Winkler den inneren Konflikt, dem sich viele rechte Aktivistinnen alltäglich ausgesetzt sehen. Auf der einen Seite steht die Sehnsucht nach Macht, nach Stärke, nach Dominanz. Auf der anderen ihre ideologisch festgeschriebene Funktion als Heimchen am Herd, als Kindsmutter, als Gebärmaschine.
Vier Akteurinnen benötigt Winkler, um die Seele der Durschnittsneonazistin zu sezieren. Die Tänzerinnen gehen dafür an die körperlichen Grenzen – und bisweilen darüber hinaus. Sie kämpfen mit sich, zerreißen sich sprichwörtlich, stöhnen und schnaufen. Der Regisseur lässt sie zu dumpfen Parolen von Neonazis und ihren Gegnern tanzen, zu melancholischer Musik, zu einer Rede Holger Apfels und zu der Pop-Schnulze “Zwei Herzen schlagen” der Rechtsrock-Band “Sleipnir”.
Winkler greift ästhetische Diskurse der Neonazis von heute auf. Nachdem er den Zuschauern einen Youtube-Clip der “Unsterblichen” auf Leinwand vorgeführt hat, greifen seine Akteurinnen selbst zu den schwarzen Kostümen und weißen Masken, mit denen Neonazis 2011 und 2012 klandestine Kurzaufmärsche durchführten, um symbolisch in der anonymen, starken Masse aufzugehen – und schweigen in der Stille, die nun den Raum durchflutet. Die Szene des Abends.
Eine ästhetische Anspielung findet sich auch im spartanischen Bühnenbild, das aus einem fahlgrauen Linoleum-Boden, vier Lautsprechern und einigen Spahnholzplatten als äußere Begrenzungslinien besteht. Zwei Kleiderständer im Hintergrund erscheinen, vom richtigen Winkel aus betrachtet, wie Todesrunen, die seit dem Nationalsozialismus in rechtsextremen Kreisen etwa auf Grabsteinen oder in Trauerannoncen Verwendung finden. Ein bessere Metapher hätte Winkler kaum finden können, um den Wesensgehalt faschistischer Ideologie zu symbolisieren: Die Verherrlichung von Gewalt.
Das Wagnis, ein höchst sensibles, politisches Thema ohne Worte auf die Bühne zu transformieren, geht auf. Der Zuschauer durchlebt mit den Tänzerinnen binnen einer Stunde die Unterdrückung, Erniedrigung, aber auch die Unterwürfigkeit rechtsextremer Frauen. Das Premierenpublikum spendete viel Applaus.
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