"Das Wort wird nicht mehr benötigt", sagt Nitsch zu seinem Gesamtkunstwerk. Ähnlich sprachlos sind auch die meisten der Zuschauer an diesem einen Samstag im Centraltheater. Doch das Jahrmarktspektakel könnte zeigen, wie viel Kleingarten in den Menschen steckt. Auch wenn der Vorwurf der Kleinbürgerlichkeit vom Centraltheater und seinen Fans letztlich nicht viel besser scheint. Ein gerütteltes Maß an Spektakelbesuchern können mit dem Gezeigten nicht viel anfangen.
Am Centraltheater sind ca. fünf Polizeiautos stationiert, um die 200 Demonstranten stehen links vom Eingang und rufen “Zeig dich Nitsch”, während die Besucher langsam in das Foyer strömen. Vor der Kasse ist eine nackte Frau an einem Kreuz befestigt, sie ist voller Gedärme und aus ihrem Mund rinnt Blut. Ein Orchester spielt dazu die Sinfonie, die schon am Freitag vorgestellt wurde. Die Masse bewegt sich langsam, viel zu viele sind es, die sich in das Foyer quetschen und dann zur Garderobe gehen.
Dort sind ebenso Bahren und Kreuze aufgebaut. Fische, Trauben, Schweine, Wein und Tomaten liegen auf Tischen bereit. Die Orgie beginnt, immer wieder wird an verschiedenen Punkten im Raum ein Mann oder eine Frau mit Blut und Gedärmen übergossen, eingerieben. Drei Männer liegen mindestens drei Stunden am Eingang, mit Gedärmen auf ihren Penissen.
Zwischendurch werden einzelne Demonstranten, die sich unter das schaulustige Volk gemischt hatten, von Sicherheitsleuten aus dem Gebäude geschleppt, fast mutet es manchmal an, es gehöre zum Schauspiel. Teile des Publikums stimmen hörbar zu, denn ihre Sensationslust darf nicht gestört werden. Die Fronten verhärten sich an diesem Abend, alles ist dogmatisch unterlegt. Da sind die Protestierenden, die unter Anderem “Wir wollen keine Pädophilen” skandieren, anderen unter ihnen geht es eher um Tierschutz. Auf der anderen Seite die Besucher des Spektakels, die zur großen Zahl wohl gerade wegen des Skandalcharakters gekommen sind. Und ebenso wie die Demonstranten nur Unverständnis für die Gegenseite übrig haben.
Wenn man nach Ende der blutigen Schau fragt, wie er oder sie es fand, erntet man hier letztlich Wortlosigkeit – einige junge Leute im Publikum schaffen nicht viel mehr als: “Das war so voll so … krass.” Doch ebenso finden sich viele, eher Erwachsene, die alles analysieren, die in jedem Gewühl noch eine Botschaft erkennen. Als es in die Arena geht und die Freiwilligen in einem aufgeschlitzten Stier baden, sich mit Gedärmen bewerfen und mit Blut bespritzen, erklärt ein Mann einem Nebenstehenden, welche Bedeutung dieses Gewühl gerade haben soll.
So bleibt am Ende das Gefühl der Ohnmacht. “Weißt du, man muss das nicht gut finden, aber man muss es verstehen, um es zu ändern.” Vielleicht ein wichtiger Satz eines jungen Besuchers an diesem Abend. Vielleicht auch nur eine weitere Spielart des Unverständnisses. Wann wird Toleranz und Verständnis ausgenutzt im Sinne einer Kultivierung und nicht Lösung von Problemen und Abgrenzung? Spielen Nitsch und Co. nicht genau damit? Ebenso bleibt wohl die Frage, wie weit sich die moderne Gesellschaft von einem dionysischen Fest der Ekstase und des Rausches entfernt hat.
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Viele Diskussionen und Entrüstung hatte …
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Endet die Intendanz Sebastian Hartmanns …
Doch sich in diesen Tagen zu positionieren fällt schwer, denn wo Worte fehlen, regiert der Populismus die Debatte. Ist man gegen das Centraltheater, ist man kleinbürgerlich und verklemmt. Und sieht man die Kommentare der Gegner Nitschs auf seiner Facebook-Seite, dann stimmt das sogar.
Verbindend für das Publikum des Abends auf jeden Fall der Ekel. Das ganze Theaterhaus riecht nach all dem, was sonst unter Seife und Parfüm verschwindet: Fisch, Schweiß, Verwesung und Blut. Keiner aus dem Publikum möchte spontan mitmachen, Überraschungen bleiben aus. Doch am Ende wird heftig applaudiert durch die, welche geblieben sind. Mit der Pause haben viele bereits genug gesehen.
Nachtrag: Am Sonntag feierte Sebastian Hartmann in der Bosestraße seinen Abschied, nachdem das “Orgien-Mysterien-Theater” mit dem “Dionysischen Fest” das 3-Tage-Spiel beendete. Mit Allen, die kommen wollten. Es wurde – wie oft bei Firmenfeiern üblich – gegrillt.
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