Er war jahrzehntelang Schauspieler der Leipziger Theater. Über 30 Jahre lang betreute er als künstlerischer Leiter das Arbeitertheater Metallurgiehandel. Am 11. Juni wäre er 100 Jahre alt geworden. Und sein einstiges Arbeitertheater kommt noch immer einmal jährlich zu einer Probe zusammen, als ob es um ein neu zu inszenierendes Stück ginge ...
Gentleman mit Hut
Als Erich Giesa einst zum 80. Geburtstag zu Hause von Schauspiel-Intendant Wolfgang Hauswald und dem Personalrat Gratulationen erhielt, sagte Erich Giesa lautstark und eindringlich: “Ich hätte mich ja sehr gefreut, wenn mir mein Intendant noch eine neue, große Rolle als Geschenk mitgebracht hätte.”
Seine Kollegin Christa Gottschalk hat über Erich Giesa gesagt: “Immer als Herr und Gentleman!” Und meistens mit Hut. So sah man ihn auch nachmittags spazieren gehen von der Wohnung am Rossplatz zum Clara-Zetkin-Park. Dort spielte er leidenschaftlich Schach.
Lucie Höflich, Gustaf Gründgens…
Erich Giesa wuchs in Osnabrück auf, lernte mit Nachbarskindern Literatur und Theater kennen und wollte – Schauspieler werden! Mit 17 war er bei einer Wanderbühne, dann besuchte er Lucie Höflichs Schauspielschule. Danach erstes Engagement im Stadttheater Neisse. Gustaf Gründgens hat er als “Faust” gesehen, und schwärmte davon.
Als Richtkanonier spielte er auch für die Wehrmachtskompanie Theater. In Verden an der Aller gründet er 1945 als Direktor die “Neue Schauspielbühne Verden”, die aber 1948 die Währungsreform nicht überlebt. Und der Begriff von “Giesas Bunter Bühne” wird später hinter der Bühne noch öfters freudig benutzt werden …
Dann holt Leipzigs Intendant Max Burghardt Erich Giesa 1951 ins Ensemble. Johannes Curth, Horst Smiszek, Hans Michael Richter, Karl Kayser und Karl Georg Kayser sind die Regisseure. Manchmal sind es Episodenrollen mit lautstarken Einwürfen: der Eunuch in Volker Brauns “Großem Frieden”, Erich Giesa schwebt auf einem Steg mehrere Meter über dem Geschehen von Fritz Bennewitz’ Inszenierung eine Stückes über chinesische Geschichte, das aber eigentlich die DDR-Gegenwart meinte. Schweizerischer Volkszorn gegen den Landvogt und für Wilhelm Tell kam auch aus dem Mund von Erich Giesa und in “Leben des Galiei” war er einer der Priester des Vatikans. Fritz Bennewitz machte für die “Mutter Courage” von Marylu Poolman und Gert Gütschow als Feldkoch die Bühne hell, nur der alte Obrist stolzierte und tänzelte zwischen den Schlachten vergnügt in rosafarbener Uniform um seine Braut herum, ein Kabinettstück für Erich Giesa und Renate Goerdes als Yvette.
Gut 60 Schauspieler hatte das Leipziger Ensemble bis Anfang der 1990er Jahre, wer einmal da war, blieb meistens. Wer nicht immer beschäftigt war, hatte Zeit für Funk, Filmsynchronisation, Fernsehen, literarische Programme – oder Arbeitertheater!
“Klassiker sind schwer zu spielen”
Eine neue Rolle wuchs Erich Giesa 1955 zu. Als städtischer Schauspieler sollte er sich um das Arbeitertheater Metallurgiehandel kümmern. Er tat es mit Engagement bis zur Auflösung des Ensembles, dem die organisatorische Leitung fehlte. Er probte, inszenierte, schrieb Stücke, allein 16 Weihnachtsmärchen. Schauspielerische Vorkenntnisse und Erfahrungen hatten die Mitspieler kaum, sie kamen aus unterschiedlichen Berufen und nur wenige arbeiteten im Trägerbetrieb. Geprobt wurde in vielen Provisorien, zuletzt einige Zeit in der Kantine des City-Werks. Zur Weihnachtsmärchen-Hochsaison zog die Wanderbühne durch die Leipziger Stadtteile und bis nach Knauthain.
Erich Giesa kannte sich aus im Bühnen-Geschehen, im Zusammenspiel von Darstellern, Dialogen, Komik und Pointen. Seine Texte waren maßgeschneidert für die Truppe, bis hin zu den Liedern und der Einstudierung. Für Frauen gab es, anders als in der klassischen Dramatik, viel zu tun. Was ging da alles ab, wie zum Beispiel bei einem Duett zweier Hofdamen und dem Duell mit Sonnenschirmen!
Andere Leute der Profibühne holte Erich Giesa hinzu, Bühnenbildner, den Kostüm-Fundus, den Musiker Siegfried Tiefensee, und der Maskenbildner Heinz Richter reiste mit zu den Vorstellungen. Zuweilen wurde das Weihnachtsmärchen bis zu 20 Mal in einer Adventszeit aufgeführt. Erich Giesa war mit Akribie, Liebe und Geduld dabei. Wie sonst hielt er es mit den Leuten aus, die tagsüber schon ihren Berufen nachgegangen waren – und oft jahrelang zwei Mal wöchentlich zur Probe anreisten, bei der, ja, auch das gehörte dazu, mal eine Flasche Bier getrunken wurde. Manchmal ging Erich Giesa bei der Kritik sorgsam vor: “Da war schon sehr viel Gutes dran!” Er sah den Willen und den Spaß seiner Zöglinge: “Spiellaune habt Ihr gezeigt! Prima! Und wenn etwas nicht den Vorstellungen des Regisseurs und eben auch Textautors entsprach, tröstete ihn beispielsweise Klaus Fehre mit den Worten: “Klassiker sind eben schwer zu spielen!”
Als vom “Bitterfelder Weg” des künstlerischen Volksschaffens schon lange nicht mehr offiziell die Rede war, machten auch in Leipzig einige Künstler, Betriebe, Kolleginnen und Kollegen unentwegt weiter!
Na klar, man wollte mal den “neuen Menschen” suchen und es gab als Auftragswerk “Zwei Sonnen über dem Feld” und auch Aufführungen der “Zeit der Störche” nach Herbert Otto. Burkhard Damrau war damals Amateur-Darsteller, studierte später Schauspieler, spielt heute in der “Leipziger Pfeffermühle”.
Freilich “im Rahmen der Verwirklichung der Beschlüsse des Zentralkomitees….” war auch das ideologisch durchgeplant und durchgestellt. Die “organisierte gesellschaftliche Tätigkeit” war auch sozial-mit-versichert. Einige “Volkskunstkollektiv”-Auszeichnungen heimsten Erich Giesa und seine Truppe auch ein, bei Arbeiterfestspielen sogar 1964 eine Goldmedaille für “Das schwedische Zündholz”.
Eleonore Gottelt, seit Kindheitstagen Arbeitertheater-Schauspielerin ist den Künsten treu geblieben, wurde Bibliothekarin, ist in der Leipziger Stadtbibliothek tätig. Sie hat die Chronik und die Geschichte des Arbeitertheaters aufgearbeitet, mit einer Fülle von Stücken und Inszenierungen Erich Giesas. In vier Folgen druckte das Fachblatt des Freien Theaters Sachsens die Geschichte ab.
Gern hätten die Arbeitertheaterleute auch wieder Kontakt zur Familie Giesa. “Wir sind auf der Suche nach dem künstlerischen Nachlass”, sagt Eleonore Gottelt. “Und auch die Honorar- und Lizenzabteilung des MDR hat keinen Ansprechpartner mehr, wenn sie wieder einmal ein Hörspiel mit der Stimme Erich Giesas senden sollte.”
Wahnsinns-Rolle
Erich Giesa spielte mit zunehmendem Alter kleinere Rollen. Und dann dreht er noch einmal auf, mit allem Ernst zeigte Giesa den wunderlichen Alten in Michael Frayns Theater-auf-dem-Theater “Nackter Wahnsinn”. Inmitten von lauter überdrehten Schauspielern war sein Opa-Typ und seine Rolle als Schauspieler vielleicht der einzige normal Gebliebene. Grell bunt gekleidet, mit Wollmütze, suchte er in aller Ruhe mit den Tücken der Objekte und der sich Ereignisse überstürzenden Ereignisse kämpfend die irgendwo befindliche Falsche… Hatte Erich Giesa zuvor schon so eine Rolle gehabt? Bis zum 78. Lebensjahr stand er auf den Leipziger Brettern.
Was er in seinem Bühnenleben noch gern gespielt hätte, vertraute er einem Interviewer an: “Viel mehr komische Rollen – mit leisem, feinen Humor wie Heinz Rühmann.”
Ein Radioreporter fragte den 80-jährige Erich Giesa nach dem Lampenfieber, und er antwortete nach kurzem Nachdenken, dass das stärker geworden war, es sich verändere, so wie sich der Eindruck ändert, wenn man die eigene Stimme auf der Bühne und in Sälen hört.
Nach seinen Vorstellungen im Schauspielhaus trank er in der “Klause” des Schauspielhauses gern ein Bier im Stehen, gleich vorn, an der Stirnseite des Tresens, schwatzte dabei mit den Kollegen. Und es kann kaum mehr als ein Bier gewesen sein, dann ging er nach Hause. Zu seiner Frau, mit der er seit 1941 verheiratet war und zwei Kinder hatte.
“Hermannsschlacht”-Mini-Szene
Einmal staunte er, als ihm während der Vorstellung “Leben des Galilei” ein Statist bekannt vorkam. Denn der war ein paar Stunden zuvor auch auf der Arbeitertheater-Probe gewesen. Und in der “Hermannsschlacht” traten beide gemeinsam auf. Regisseur Karl Georg Kayser und Bühnenbildner Axel Pfefferkorn hatten außer Rindenmulch als Bühnenboden und einer Plastikplanen-Wolke nicht viel Dekoration vorgesehen, aber Marlis Knoblauch sollte die Kostüme möglichst real gestalten – bis hin zur mörderischen Bärin.
Erich Giesa war Childerich, der Bärenführer. Und so tapste dann im aufrechten Gang ein gut 2,40 Meter großes, zotteliges Ungetüm, das sich nicht alleine anziehen konnte und an der Tatze durch das die dunkle Bühnenhaus zum Auftritt geführt und wieder abgeholt werden musste, hinter Childerich her. Mit eingeübter Haltung, trainierten Schritten und der heimlichen Absprache mit dem Bärenführer, dass die Bärin zappelt und dabei die Kette immer straff gespannt halten muss. Eine Szene von wenigen Minuten Dauer. Für alle Akteure von der Kostümbildnerin, über Theaterplastikerin, Choreografen, Ankleiderin bis zu den Darstellern war es “Großes Kino”!
Als das Arbeitertheater 2001 seinen 50. Geburtstag feierte, gratulierte Erich Giesa mit einem eigenen Gedicht: “Mein Leben war nicht immer schön / ich habe Not und Tod gesehn. / Nach schweren Jahren dann das Glück: / die Bühne holte mich zurück. / Vergessen waren Sorg und Pein. / ?Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.'”
…ein kleiner neuer Stern…
Am 10. Februar 2003 ging er von der Lebens-Bühne. An jenem Kalendertag, an dem einst Bertolt Brecht geboren wurde, der den Leuten der Straße so sehr “aufs Maul geschaut” und vom Munde abgeschrieben hat, die Bibel schätzte, Unterhaltung bereiten wollte, gern Leute um sich hatte – und Arbeitertheater-Macher aus der Industrie an sein Berliner Ensemble holte.
In der Traueranzeige zitierten die Angehörigen das erwähnte Gedicht von Erich Giesa: “Am Firmament, sehr hoch, sehr fern, / strahlt ein kleiner neuer Stern. / Das hat der Herrgott sich erdacht / den Stern mir zum Geschenk gemacht / Wenn ich von dieser schönen Erde / einst Abschied nehmen muss und werde, / dann ist der Stern mein Domizil, / mein ewig bleibendes Exil.” Beigesetzt wurde Erich Giesa am 27.02.2003 in einer namenlosen Grabstelle auf dem Südfriedhof, Abteilung 15.
Unentwegte Spiellaune
Ein nächster “Probentermin” steht schon fest: 9. November, 15:00 Uhr, im “Ratskeller” unterm Neuen Rathaus, wo man sonst mit Erich Giesa gemeinsam die letzte Vorstellung des Weihnachtsmärchens feierte. Einstige Mitspieler und Freunde sind herzlich willkommen.
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