Grimms Märchen sind Evergreens. Und die Geschichte der Salatpflanze Rapunzel und des gleichnamigen Mädchens grünt und blüht noch immer. In diesen Wochen kommt der Stoff als Komödie mit Musik auf die Bretter des Theaters der Jungen Welt. Gleichmaßen unterhaltsam, wie tiefsinnig ist das Werk von Katrin Lange. Und gekonnt gespielt.
Für das Finale hat Autorin Katrin Lange die ganz naheliegende Idee: Wenn schon ein Sechs-Personen-Stück, dann kriegen sich am Ende alle. Liebesglück mal drei. Einfach genial. So liegen sich nicht nur Rapunzel (Anna-Lena Zühlke) und ihr Prinz (Matthias Walter) in den Armen. Sondern auch noch des Prinzen lange vor Trauer gramer Vater (Reinhart Reimann) und die geläuterte, weil aller Zauberkraft beraubte Marulla (Martina Krompholz). Auch Rapunzels leibliche Eltern (Katja Bramm und Sven Reese) finden, nach dem sie ihre geraubte, in Jahresfrist zu einer erwachsenen Frau gewordenen Tochter wieder sehen, zu neuem Glück.
Glück zu zwei heißt in diesem Falle auch: Schwangerschaft und nahende Elternfreuden. Denn Rapunzels Mutter wie Marulla überkommt in der Schlussszene das schon aus dem Grimmschen Originalstoff bekannte, unstillbare Verlangen nach Rapunzeln. Ein deutliches Indiz dafür, dass sie beide in freudiger Erwartung nahender Mutterschaft sind. Und Rapunzel selbst gebar gerade Zwillinge.
Alles wächst!?, so lautet ja auch das aktuelle Spielzeitmotto am Theater der Jungen Welt. Und so viel glücks- und lebensbejahende Darstellung von Elternschaft passt auch bestens zum Zeitgeist der fast schon babyboomenden, wachsenden Stadt Leipzig. Auch wenn das Kinderglück gerade auch in Leipzig oft materiell bedrängt ist, wie ein aktuelle Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts WSI der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ausweist.
Doch die Geschichte von Rapunzel wird ja bekanntermaßen anders erzählt. Am Anfang steht eine Schwangerschaft. Der werdende Vater tut das, was alle werdenden Väter tun: Er erfüllt den Wunsch der werdenden Mutter nach dem, worauf sie gerade Heißhunger hat. In diesem Falle: Rapunzeln.
Die gibt es im heutigen wachsenden Leipzig als Feldsalat beinahe in jedem Supermarkt. Damals, noch dazu mitten im Winter, jedoch nur im Zaubergarten der Zauberin. Die heißt Marulla und ist sich mit all ihrer Zauberkraft allein dann doch nicht genug. Sie wünscht sich ein Kind ganz für sich allein. Noch dazu eines, das immer tut, was sie will.
So kommt es zu dem bekannten Kindesraub. Und das neu geborene Mädchen Rapunzel weltabgewandt in den goldenen Turm der Zauberin. Damit Marullas Mutti-Glück perfekt wird, lässt sie mittels ihrer Zauberkraft Rapunzel die ersten Lebensjahre überspringen.
Dann darf sich Rapunzel allen Kram und Krempel wünschen. Doch derart Glück – alle zur Selbstreflexion fähigen Eltern wissen das – ist nicht von Dauer. Auch ist die Liste der Denker und Konsumforscher lang, die wie Albert O. Hirschman darauf verweisen, dass die innere Befriedigung über den Besitz materieller Dinge in vielen Fällen fast schon unmittelbar nach deren Erwerb signifikant nachlässt.
So ist es auch bei Rapunzel: Der goldene Käfig-Turm und aller Kram und Krempel machen weder glücklich noch stillen sie ihre Neugier auf die Welt da draußen, nach anderen Menschen. Junge Eltern aufgepasst: Das kommt spätestens in der Pubertät bei allen behüteten Rapunzeln vor. Also geht Rapunzel los. Erst in Gedanken und mit Fragen an die Zauberin. Dann ganz auch wirklich: Denn der Prinz, der zu ihr kommt, ist zwar ein ganz lieber, aber kein rettender. Er geht erst mal eine Leiter holen. Eine Aufgabe, mit der der fast ebenso weltenfern aufgewachsene Prinz überfordert scheint.
Alles muss Frau also selber machen. Rapunzel, die nun auch schon Heißhunger auf das Blattgemüse gleichen Namens hat, emanzipiert sich von ihrem bisherigen Leben. Von der falschen Mutter, und den Prinzen-Rettern dieser Welt gleich mit. Der Zopf kommt ab. Diesen emanzipatorischen Akt nimmt bei Katrin Lange Rapunzel selbst vor. An der Bodenplatte ihres Käfig-Turmes befestigt, dient er ihr beim Abseilen. Dann zieht sie los, den Prinzen zu suchen.
Dann suchen in kalter Winternacht alle alle. Und sie finden – nach dramatischer Zuspitzung und manch Anlehnung an Bibelstellen – in dem grünen Zaubergarten der Zauberin auch zueinander. Glücklich vereint. Und Rapunzel bekommt ihre Zwillinge.
Genial ausgedacht von Katrin Lange. Und spritzig und brillant vom Team des Theaters der Jungen Welt unter der Regie von Boris von Palmer umgesetzt.
Die Premiere am Theater der Jungen Welt am Sonnabend war zugleich die Uraufführung des Lange-Stückes. Es ist das zweite Auftragswerk, in dem die Berliner Autorin einen klassischen Grimm-Stoff für das Haus am Lindenauer Markt in ein Theaterstück fasst.
Noch sieben Mal gibt es das Stück in diesem Jahr: Am 21. und 24. November sowie am 9., 15., 23., 26. und 27. Dezember. Weihnachten kann kommen.
Bleibt nur noch die schon ältere Frage: Wie kommen die gewaltträchtigen Grimm-Stoffe immer wieder an den Kontrolleuren der FSK und anderen Jugendschützern vorbei. vorbei. In Rapunzels Fall geht es immerhin um räuberische Erpressung und Kindesentführung.
Keine Kommentare bisher